Nein, Chemnitz ist nicht Enrico Lübbes Endstation – im Gegenteil. Und es war auch nicht Sehnsucht, die ihn dorthin lockte. Trotzdem gibt der 33-Jährige ausgerechnet mit Tennessee Williams’ Klassiker »Endstation Sehnsucht« am 3. Oktober seinen Einstand als Schauspieldirektor am Chemnitzer Theater.
Nein, Chemnitz ist nicht Enrico Lübbes Endstation – im Gegenteil. Und es war auch nicht Sehnsucht, die ihn dorthin lockte. Trotzdem gibt der 33-Jährige ausgerechnet mit Tennessee Williams’ Klassiker »Endstation Sehnsucht« am 3. Oktober seinen Einstand als Schauspieldirektor am Chemnitzer Theater. Zwei ehemals Leipziger Schauspielerinnen, Julia Berke und Susanne Stein, spielen darin die weiblichen Hauptrollen. Beide sind zu Lübbe nach Chemnitz gewechselt.
Leipzig war auch für ihn selbst 15 Jahre lang die Basisstation, von der aus der junge Regisseur erste Erkundungen in der deutschen Theaterlandschaft unternahm. Hier hat er studiert, hier brachte er es mit 25 zum Hausregisseur am Schauspiel Leipzig. Diese »Riesenchance« verdankt er Wolfgang Engel, seinem Förderer. Bald schon kamen Angebote von anderen Häusern. Der gebürtige Schweriner nabelte sich ab, inszenierte in Stuttgart, Köln, Hamburg, Magdeburg und Nürnberg, blieb aber in Leipzig wohnen. Der Anruf aus Chemnitz erreichte ihn in Halle, wo er gerade am Neuen Theater »Kabale und Liebe« probte.
Chemnitz ist sein erster Chefposten, er hat dort einen Dreijahresvertrag unterschrieben. »Ich mag es, fest an einem Ort zu arbeiten«, erklärt Lübbe und spricht von der »Sehnsucht, mit Leuten kontinuierlich zusammenzuarbeiten und so ein Haus auch zu prägen«. Er hat fünf Schauspieler übernommen und fünfzehn neu engagiert, hinzu kommen die acht Studenten vom Schauspielstudio. Unter seiner glücklosen Vorgängerin Katja Paryla ging es zuletzt nur noch bergab – von ihm wird nun erwartet, dass er das Publikum zurückgewinnt. »Das Theater gegenüber der Stadt zu öffnen und neue, vor allem auch junge Zuschauer anzusprechen«, so formuliert er seine wichtigsten Ziele.
Leicht wird das nicht. Denn die Chemnitzer neigen nicht gerade zum Stolz auf die eigene Stadt, fühlen sich gegenüber Leipzig und Dresden beständig zurückgesetzt, empfangen den sympathischen Neuling nicht durchweg mit offenen Armen. Und: Chemnitz ist eine überalterte Stadt. Junge Menschen muss man auf den gähnend leeren Straßen und Plätzen mit der Lupe suchen.
Was ist da zu tun? Lübbe hat beschlossen, in die Offensive zu gehen. Selbstbewusst hievt er das »Who's who der Weltdramatik«, wie er es nennt, auf die Große Bühne: Auf »Endstation Sehnsucht« folgt nur einen Tag später Lessings »Emilia Galotti« (Regie: Thomas Bischoff) und, noch am selben Abend auf der Kleinen Bühne, die Uraufführung von Ulrike Syhas Stück »Privatleben«. Noch im Oktober zeigt Lübbe zwei ältere Arbeiten, die er mit dem Chemnitzer Ensemble neu erarbeitet: »Antigone« (Magdeburg, 2005) und »Der Gott des Gemetzels« (Tübingen, 2007). Vier zentrale Darsteller beider Stücke kommen nicht nur als Gäste, sondern bleiben – als neue Ensemblemitglieder.
Enrico Lübbe ist kein Abenteurer, weder als Regisseur noch als Theaterchef. Soll doch Sebastian Hartmann in Leipzig volles Risiko gehen – er fragt sich lieber: »Was glauben wir leisten zu können? Wo fühlen wir uns sicher?« Viel Geld hat er nicht zur Verfügung, einen Vorbereitungsetat gleich gar nicht, die Pressearbeit bestreitet er mehr oder weniger selbst. Dafür lässt ihm Generalintendant Bernhard Hellmich, Leipzigs früherer MuKo-Chef, inhaltlich völlig freie Hand.
Und es ist ja nicht so, dass er nicht doch mit ein paar Namen aufwarten könnte: So wird Bruno Cathomas »Macbeth« inszenieren (Premiere: 21. März 2009), Hugo Gretler die Bühnen zu den Lübbe-Inszenierungen »Endstation Sehnsucht« und »Drei Schwestern« bauen (Premiere: 24. Januar 2009), die junge Autorin Anne Habermehl ihr erstes abendfüllendes Theaterstück »Küss mich hinter Kaufhof« in Chemnitz herausbringen (Premiere: 2. Mai 2009). Sechs Uraufführungen, alle auf der Kleinen Bühne, schmücken den Spielplan. Und am 18. Oktober gastieren Rimini Protokoll mit »Das Kapital« im ehemaligen Karl-Marx-Stadt – ist das alles etwa nichts?
»Provinz ist da, wo man sie zulässt«, philosophiert Lübbe. Wenn er den Blick nach Leipzig oder Dresden richtet, wo 2009 – von Hannover kommend – Wilfried Schulz das Ruder übernimmt, dann kann er sich mit der Dreiecks-Konstellation durchaus anfreunden: »Ich bin natürlich der absolute Underdog«, strahlt er. »Und das mag ich ja.«