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Kultur

Die Stunde, da wir uns erinnern

Nach 13 Jahren endet die Intendanz von Wolfgang Engel am Schauspiel Leipzig – ein Rückblick in vier Etappen

  Die Stunde, da wir uns erinnern | Nach 13 Jahren endet die Intendanz von Wolfgang Engel am Schauspiel Leipzig – ein Rückblick in vier Etappen

Nach 13 Jahren verlässt er als Intendant das Haus. Grund genug, zurückzublicken: Vier kreuzer-Autoren haben ihre ganz persönlichen Erinnerungen aufgeschrieben. 13 Jahre Gänsehaut, Risiko, manchmal Langeweile – in jedem Fall: 13 Jahre Theater mit Leib und Seele! Der kreuzer sagt: Wolfgang Engel, alles Gute!

Aufbruchsstimmung und Gänsehaut (1996 bis 1998)

»Wenn Theater schön war und nett, war es nicht gut«, sagte Wolfgang Engel, als er sich dem Publikum erstmals vorstellte. Mit der Premiere von »Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten« hielt er Wort. Die Leipziger feierten ihn ebenso wie das überregionale Feuilleton. Die Premierenfeiern, die von nun an öffentlich waren, spiegelten jene Aufbruchsstimmung, die im Ensemble geherrscht haben muss. Man wusste, hier ging was los, hier wird was passieren. Mit Regisseuren wie Konstanze Lauterbach, Armin Petras oder Herbert König landete Engel einen Treffer nach dem anderen. Die Zuschauerzahlen schnellten in die Höhe, die der Abonnenten auch. Engel machte Theater für verschiedene Publikumsschichten. Sein Schlagerabend »Tschia, Tschia,Tschia, Tscho, Käse gibt es im HO« war ein Hit, ebenso wie Lauterbachs Inszenierung »Der Auftrag«, die sogar zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Bereits in der zweiten Spielzeit aber teilten sich die Meinungen. Es begann mit Herbert Königs »Bakchen«, einer Inszenierung, die, was selten vorkam, weit mehr bot als Stadttheaterniveau. Die rasenden Mänaden etwa, oder Ellen Hellwigs stummer Schrei machen heute noch Gänsehaut. Das wollten die Leipziger offenbar nicht. »Die Bakchen« gehört zu den schlechtbesuchtesten Stücken der ersten Jahre. Der Tiefpunkt war 1998 in Sicht. »Parzival« ließ gähnen und »Come Quick Danger« die letzte Produktion des Tanztheaters, bevor es totgespart wurde, nur noch dunkel ahnen, wie wunderbar eigen die Truppe einst mit »Julie« von sich reden machte. Heiner Müllers »Weiberkomödie« hingegen war so gut, dass sie ebenfalls zum Theatertreffen eingeladen wurde. 1998 war die Aufbruchsstimmung definitiv vorbei. Was blieb, war Engels Bemühen um die Zuschauer. Die sicherte er sich vorerst mit dem Auftakt zur vierten Spielzeit. Sein »König Lear« dürfte eine seiner besten Produktionen in Leipzig gewesen sein.

»Faust« bringt Punkte (1998 bis 2002)

Der Höhepunkt jener Jahre, das sah er selbst so, war Engels »Faust« (1999). Künstlerisch ein großer Wurf, wurde er zugleich ein gigantischer Publikumserfolg. Matthias Hummitzsch als Faust, Peter Kurth (später Jochen Noch) als Mephisto, Nele Rosetz als Gretchen und Lisa Martinek als Helena – in dieser Traum-Besetzung war Engels Theater ganz bei sich. Und der »Faust« als Ganzes wurde zum Ereignis, Pausen-Menü in Auerbachs Keller inklusive. Der Intendant kam, sah und setzte nun verstärkt auf die Eventschiene. Denn diese Sprache verstand das Leipziger Publikum (wie sich bereits im März 1998 beim Spektakel »Dschungel L.E.« gezeigt hatte), während es dem Theateralltag im großen Haus die kalte Schulter zeigte. »Wenn die Leute den ,Faust‘ als Event betrachten, soll es mir recht sein«, wehrte Engel damals im kreuzer ab. »Heute ist es eben auch wichtig, dass man einen Parkplatz findet und nach der Vorstellung gut essen gehen kann. Das akzeptiere ich.« Aber Events sind eben Kraftakte, Ausnahmen von der Regel. Weiterhin viel zu oft gähnende Leere im großen Haus. Nach »Faust« bleiben vor allem Lauterbachs »Räuber« (mit Jochen Noch als Franz) in Erinnerung, ebenso wie »Warten auf Godot« (mit den Herren Eberle und Stübner als Wladimir und Estragon). Vom kreuzer zunächst als »fader Klassiker« geschmäht, sollte sich die Inszenierung von Herbert König später zum Kultstück und Dauerbrenner entwickeln. 1999 inszenierte erstmals ein gewisser Michael Thalheimer in Leipzig, in der Neuen Szene ließ er seine »Top Dogs« im Hamsterrad kreisen. Doch auch Thalheimer scheiterte an der großen Bühne: »Kasimir und Karoline«, seine zweite Arbeit, floppte im Schauspielhaus. Unterdessen bekam ein Ziehsohn des Intendanten seine Chance: Erst 25-jährig, wurde Enrico Lübbe Hausregisseur am Schauspiel Leipzig. Im Herbst 2001 erschütterte Engels »Hamlet« die Gemüter: Gaststar Sylvester Groth spielte die Leipziger Kollegen an die Wand. Manch einer witterte Vorsatz, der kreuzer rätselte: »Ist Leipzigs Ensemble wirklich so schwach wie an diesem Abend?« Ganz sicher nicht. Denn was für Typen hatte Leipzigs Theater damals unter Vertrag: Jörn Knebel, Sandra Hüller, um nur zwei zu nennen. Heute zu bewundern in Hamburg und München.

Engels »Don Karlos«
Komödienjahre (2002 bis 2006)

Wolfgang Engel hatte einen guten Ruf, setzte zu Beginn der zweiten Hälfte seiner Intendanz aber viel daran, ihn zu ramponieren. Logistische Herausforderungen wie die Doppelkomödie »Haus & Garten« (2002), die zeitgleich auf zwei Bühnen spielte, oder der Schlagerabend »Weiße Rosen aus Athen« (2003) wurden Chefsache. »Fette Männer im Rock«, ein Sketch um Inzest und andere Doktorspiele (2003), markierte einen Tiefpunkt. Und der westdeutschen Provinz empfahl sich die einstige DDR-Theaterlegende als Tournee-Sommertheatereinrichter vom »Diener zweier Herren« (2004) bis zum »Schlafzimmer von Alice« (2006). Lustig war das meistens nicht, und hätte es neben dem Operndesaster »Aida« und Polit-Populismus (»Troilus und Cressida«) keine Ausnahme gegeben, Engel wäre als Komödiendirektor in die Stadtchronik eingegangen. Doch 2005 fand er unerwartet wieder zu Gewicht und bescherte dem Theater mit dem »Don Karlos« nicht nur ein packendes Intrigenstück. Indem er die Ideale Freiheit und Freundschaft als bloßen Vorwand für individuelle Machtgelüste erscheinen ließ, setzte er ausgerechnet im Privaten die politischen Potenziale des Ideendramas frei. Ein starker, heutiger Theaterabend, der wie 2006 noch einmal seine »Orestie« erahnen ließ, was Engels Ruhm einst begründet haben musste. Was bleibt, sind außerdem Erinnerungen an Aufführungen anderer Regisseure, die der Intendant nach Leipzig holte (und oft auch verstieß): von den anarchisch-verspielten Abenden Ulrich Hünis im »Horch & Guck« bis zu den bedeutungsschweren Ensemble-Choreografien Markus Dietz’. Und an die Schauspieler(innen), die wie Constanze Becker und Anja Schneider schon heute an großen Bühnen wiederzusehen sind.

Ostpower ohne Zuschauer (2006 bis 2008)

Die beiden letzten Spielzeiten standen unter der Zielsetzung, endlich »aktuell«, »politisch« und Teil öffentlichen Geschehens zu werden. So versuchte das Haus mit ambitionierten Spielzeitmotti Theater zu machen, das Leipzig »angeht« und somit eine Kampfansage gegen die sinkenden Zuschauerzahlen formuliert: In der laufenden Spielzeit sollte es entsprechend um »innere Sicherheit« gehen, 2006/07 lief unter dem Motto »Ein jeder gibt den Wert sich selbst!« als eine Auseinandersetzung mit der Debatte um (Un-)Wert und die Definition von Menschsein. Höchst unpolitisch ging es allerdings gleich zur Spielzeiteröffnung 2006 los: mit einem belanglosen »Vor Sonnenuntergang«. »Wallenstein« versuchte sich – trotz guter dramaturgischer Einfälle – insgesamt ermüdend in Spektakelkultur, Massenmobilisierung und der Eroberung von öffentlichem Raum. Der Versuch, mit »Der Kick« Sozialstrukturen in den neuen Bundesländern zu erforschen, gelang demgegenüber gerade durch Bescheidenheit, politische Nuancierung und die Erprobung einer neuen, dokumentarischen Theaterform. Viel Politisches ohne zu viel Ambition konnten auch »Ein idealer Gatte« und »Bitterer Honig« bieten: mit gelungener Gesellschaftssatire und zarten Zwischentönen. Durchaus Politisches war auch in der Abschlussinszenierung »Molière oder Die Verschwörung der Heuchler« zu erleben: Die komplexbeladene Eitelkeit und der Größenwahn Molières finden Ihresgleichen auch außerhalb der Theaterräume. Die Präzision und Sensibilität im Umgang mit Texten, die Engels Inszenierungen ausmachen, ist im »Molière« einmal mehr wiederzufinden. Ebenfalls erfrischend erscheint Thomas Hertels Reihe »mund & knie«: Die multimediale Befragung der Lebensentwürfe von Granddaddy Jake und seinem Enkel Tiny in »Fup the Duck« zeigt auf hervorragende Weise, wie Theater zugleich berührend und höchst politisch sein kann! Danke dafür – auch dem Haus für die Unterstützung dieser Reihe!


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