Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Teil 3: Unsichtbarkeiten
I.
Ich habe einen Unsichtbaren gesehen. Ein Mensch lag auf der Straße; ich sah ihn da liegen, aber eben nicht ihn selber, sondern nur seinen Schlafsack. Eine riesige blaue Nylonraupe, eine Textilwurst von einer Größe und Form, die unverkennbar anzeigte, dass sich hier ein Mensch eingepackt und hingelegt hatte. Kein Installationskünstler hätte diese Gestalt so präzise nachbilden können. Und wie dekadent müsste man auch sein, um zuerst an ein Kunstwerk zu denken, wenn da so offensichtlich ein Mensch liegt? Aber dieser Anblick ist in unseren Breitengraden ja doch reichlich ungewohnt. (»Noch«, möchte die wirtschaftskrisenaktualitätsgeile Möchtegernkassandra in mir schreiben.)
Und wieso hatte sich dieser oder diese mutmaßlich Obdachlose ausgerechnet diesen Platz zum Schlafen ausgesucht, dieses durch eine Baustelle eingeengte Stück Gehsteig, wo sich Fußgänger und Radfahrer aus beiden Richtungen auf knappstem Raum zu einem Torbogen hin oder von diesem weg aneinander vorbeizwängen? Hier setzte er oder sie sich mit höherer Wahrscheinlichkeit als an den allermeisten anderen Orten der Gefahr eines Unfalls aus. Bewusst? Provokation, Demonstration, stille – schlafende – Anklage, Selbstaufgabe? Und wie wäre dann die implizite Frage »er oder sie« zu beantworten, die mir hier schon so viele gestelzte Formulierungen abgenötigt hat? Ein populärwissenschaftliches Klischee besagt bekanntlich, Frauen würden auf Krisensituationen eher mit autoaggressivem Verhalten reagieren, Männer eher mit Aggression gegen außen. Was bedeutet folglich eine derart ostentative Selbstgefährdung?
Ich lenkte mein Rad vorbei und holte Jo wieder ein. Wir waren auf dem Weg zu einer Vorlesung, die wir beide besuchen. »Den habe ich auch schon da liegen gesehen«, sagte er nur. »Den«. Aber auch er hatte immer nur den Schlafsack gesehen, nicht den Menschen. Der Mensch ist auf Deutsch rein sprachlich zuerst einmal immer männlich. Und dieser Mensch konnte für uns nicht viel mehr als ein korrekt bezeichnetes Substantiv werden, weil er unsichtbar blieb.
II.
Unsichtbar müssen der Natur der Sache nach auch die Objekte einer so genannten Doppelblindstudie sein. Eine solche schlug Jo vor, als ich behauptete, ich könne schwarzen von gemischtem Pfeffer unterscheiden. Ich hatte damals zu seiner und Lenas Rückkehr aus dem Italienurlaub und dem daraus resultierenden ersten gemeinsamen Abend von uns vier Schweizer Exilanten in der fertig renovierten Wohnung ein aufwändiges Menu gekocht. Wenn ich das tue, mutiere ich jeweils zu einem divenhaften Bocuse-Verschnitt, worunter dieses Mal vor allem Constantin als Küchengehilfe zu leiden hatte. Den Höhepunkt der Pedanterie stellte für ihn meine Aufforderung dar, die gemischten Pfefferkörner aus der Mühle zu entfernen und durch schwarze zu ersetzen, wie er beim Essen klagte. Ich bestand darauf, den Unterschied im Geschmack blind erkennen zu können, worauf mich Jo, dem in quantitativer Sozialforschung niemand etwas vormacht, aufklärte, es müsste aber eben eine Doppelblindstudie sein – was soviel heißt, wie dass ich auch zweimal dieselbe Pfeffersorte vorgesetzt bekommen könnte.
Ich gestehe, zu diesem Versuch ist es bis heute nicht gekommen. Aber seither sehe ich überall Möglichkeiten für Doppelblindstudien. Nicht nur im kulinarischen Bereich, aber auch immer wieder da, beispielsweise bei Mayonnaise. (Treue Leserinnen und Leser, falls man nach drei Wochen schon von Treue sprechen kann, werden sich erinnern, dass ich hiermit ein Thema doch noch platziere, das mir letzte Woche von der Aktualität verdorben worden war.) Ich wette nämlich, dass aus der hier gekauften Thomy-Tube dasselbe kommt wie aus derjenigen aus heimatlichen Restbeständen – obwohl die schweizerische Mayo laut Tubenaufschrift »Mayonnaise à la française« ist, außerdem »die Echte – la vraie«, die deutsche demgegenüber »Delikatessmayonnaise – unser Original« und in der »Garniertube« gereicht wird. Damit sind wohl die Zäckchen am Tuben-Ausgang gemeint, die – Wunder der Technik – der herausgepressten Mayo-Wurst rundherum Rillen eindrücken. Die hat die Schweizer Tube aber auch.
Seit ich in Deutschland lebe, bin ich äußerst sensibilisiert für solche Beschriftungen auf Konsumgütern. Sie erscheinen mir hier ungleich variantenreicher und aufdringlicher als in der Schweiz. Noch auf den zweifelhaftesten Discounter-Erzeugnissen wird schreierisch mit »Marktfrische« und »Markenqualität« geworben, als ob die Befähigung, eine Handelsmarke anzumelden auch nur im geringsten Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen stünde. Auf Milchprodukten ist der Mindest-Fettanteil stets ein gewichtiges Thema. Das ist mir im hippen Zürich nie untergekommen; dort ist nur das Gegenteil ein Verkaufsargument, der Nullkommaeinsprozent-Maximalfettanteil in den Light-Produkten. Am liebsten sind mir freilich jene Verpackungsbotschaften, die in ihrer schieren Beklopptheit große Qualitäten des Absurden erreichen –»Volle Nudelkraft voraus!«, wäre hier als Jahressieger unseres WG-Wettbewerbs zu nennen.
III.
Für manche ist auch die ganze Welt unsichtbar – für Blinde. Und so spielt für sie wohl auch der Wechsel von Tag und Nacht keine so große Rolle. Jedenfalls kann einem dieser irgendwie als tröstlich empfundene Gedanke kommen, wenn man an elend kurzen Wintertagen seinem Studentenschlafrhythmus mühsam ein paar Stunden graues Tageslicht abringt, die LVB-Stimme auf der Linie 7 hingegen auch nach Mitternacht noch ungerührt einlädt: »Leibnitzstraße – Zugang zur deutschen Zentralbücherei für Blinde.«