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off campus – Die vierte Woche

Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 4: Festtage in der Hängematte

  off campus – Die vierte Woche | Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 4: Festtage in der Hängematte

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online

Festtage in der Hängematte

Ich sitze im Zug, irgendwo zwischen Leipzig und Zürich. Zum zwölften Mal in diesem Jahr, wenn ich richtig gezählt habe, fahre ich auf einer der möglichen Bahnstrecken zwischen den beiden Städten in die eine oder die andere Richtung. Man kann sich die Zeit nicht mehr mit Blicken aus dem Fenster vertreiben, weil es dunkel geworden ist und einem von der Scheibe nur das eigene Spiegelbild entgegenstarrt. Auch die vielen Zeitungen und Zeitschriften, die ich – ganz Printmedienjunkie – eingepackt hatte, habe ich weggelegt, und versuche zu schreiben.

Um diese Jahreszeit haben ja viele Artikel etwas Bilanzierendes an sich. Auch ich fühle mich in dieser hochsymbolischen Übergangssituation des Zugfahrens resümiererisch aufgelegt, zumal es die letzte Fahrt des Jahres ist. Ich fahre über die Festtage heim. „Heim“ denke ich also immer noch in diese Richtung. Ich bin in der neuen Stadt noch nicht völlig angekommen. Eigentlich nicht erstaunlich, nach knapp vier Monaten. Dennoch stört mich etwas an der Erkenntnis, dass „daheim“ in meinem Empfinden nach wie vor so eindeutig am südwestlichen Ende der Zugstrecke liegt. Ich habe das paradoxe Gefühl, dass es mir angenehmer ist, wieder nach Zürich zu fahren, als es mir angenehm sein kann.

Zürich, das ist natürlich die Familie, das sind die vielen anderen über die Jahre lieb gewonnenen Menschen. Zürich ist aber auch eine offenkundig sehr wohlhabende Stadt, wo meist alles ziemlich reibungslos funktioniert, die Strassen sauber sind und es sich als Kind des Bildungsbürgertums gut leben lässt. Sorglos, bisweilen bis zu einem Unwirklichkeitsgefühl. Nach einigen intensiven Jahren dieses Lebens sind die Verbindungen unter den erwähnten lieb gewonnenen Leuten, den Kommilitonen, Theatergruppenkolleginnen, Polit-Genossen und den vielen anderen, zu einer dicht geknüpften Hängematte verwachsen, in der es sich sehr behaglich liegt. Dann ist mit einem Mal ein nicht zu unterschätzender Kraftakt nötig, um sich überhaupt noch einmal zu erheben, um einmal noch richtig wegzukommen aus dieser vergoldeten Stadt und zumindest einen Mundvoll vom Geschmack eines anderen Lebens zu probieren, bevor man 35 ist, Vater, Dr. phil. und Mitglied des Stadtparlaments.

Dieser Erkenntnis sollte nun womöglich ein hektisch-heroischer Totalaufbruch folgen, ab in die Favelas von Rio oder ins kongolesische Hinterland, gerade von einem Ethnologen wäre so etwas ja im Minimum zu erwarten. Eines meiner Resümees nach diesen vier Monaten lautet, dass Leipzig da vollkommen ausreicht.

Eine Feststellung des für mich fühlbarsten Unterschiedes zwischen den beiden Städten wird nicht überraschend ausfallen, eher schon beinahe klischiert: Leipzig ist ärmer. Jede andere Verschiedenheit folgt wohl daraus. Der prominenteste Budgetposten im Haushalt der Stadt Leipzig sind die Sozialleistungen, während an der Zürcher Bahnhofstraße die vor gerade einmal drei Jahren für viele Schweizer Franken neu installierte Weihnachtsbeleuchtung diesen Dezember bereits wieder zum letzten Mal leuchtet und in einem Jahr durch die nächste ersetzt wird, weil sie bei den einkaufswütigen Passanten angeblich nicht den gewünschten Anklang fand. Zu kühl, zu unweihnachtlich. Kluge Köpfe munkeln, dass die damals beauftragten Künstler mit ihrer Neon-Installation der Edel-Shoppingmeile durchaus bewusst dieses Spiegelbild vorhalten wollten.

Nummer 3 in der Serie »symbolische Essensbilder«:<br>Bioschokolade - ein Goldschatz von der Zürcher<br> Bahnhofstraße, den auch ich mir leisten kann.
Der Vollständigkeit und Korrektheit halber sei gesagt, dass sich natürlich auch in Zürich längst nicht alle alles leisten können, was an der Bahnhofstraße so ausliegt. Auch da gibt es soziale Probleme. Aber nicht in einer solchen Konzentration wie mancherorts in Leipzig. In Zürich findet sich kein statistischer Ortsteil wie Altlindenau, wo in schlechten Jahren weit über 30 Prozent der Menschen Arbeitslosengeld II beziehen.

Ja, von dort ab und zu wegzukommen, empfinde ich, so wenig angenehm mir das ist, immer noch als angenehm. Ja, vielleicht werde ich auch in einem Jahr mit „daheim“ noch Zürich meinen. Ja, ich mache vielleicht nur ein bisschen „slumming“, ich sehe mir aus privilegierter Warte eine raue Ecke an und werde, wenn ich ehrlich bin, wahrscheinlich irgendwann wieder weg sein. Umso mehr fühle ich mich verpflichtet, die kulturelle und soziale Halbdistanz zwischen mir und meinem Forschungsfeld als Sensorium für die feinen Unterschiede zu nutzen, um möglichst genau und aufrichtig darüber berichten zu können.


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