Auch im weltoffenen progressiven Leipzig gibt es sexuelle Gewalt gegen Frauen. Das wird oft verschwiegen, die betroffenen Frauen verlieren viel mehr als die Täter. Drei Geschichten aus Leipzig.
TRIGGERWARNUNG: Dieser Text handelt von sexueller Gewalt. Wer von sexueller Gewalt betroffen ist findet Hilfe im Leipziger Verein Frauen für Frauen und bei der Opferhilfe Sachsen
Wie es anfängt
Nele* lächelt. Sie wirkt gefasst, aber auch irgendwie ernüchtert. Wenn es darum ginge, wie jemand aussieht, die das erlebt hat, was sie erlebt hat, könnte man jetzt von braunen Haaren mit geradem kurzen Pony erzählen, von diesem Look der linksalternativen Leipzigerinnen. Aber es geht eben nicht darum, denn es könnten blonde Haare sein, oder grüne, im Dutt oder kahlrasiert – es würde einfach keinen Unterschied machen. Was Nele passiert ist, passiert ständig, passiert überall, passiert in Leipzig.
Ich bin unsicher vor unserem Gespräch. Klar, wir würden uns nicht unterhalten, würde sie nicht erzählen wollen. Und ich nicht darüber schreiben. Ich entscheide mich für Offenheit und sage gleich zu Beginn: Mich interessiert dieses Thema und deine Geschichte, weil ich das auch erlebt habe. Ich finde es wichtig, davon zu erzählen. Trotzdem bin ich eigentlich ganz woanders mit meinen Gedanken in den letzten Tagen. Ich bin im sechsten Monat schwanger, als ich erfahren habe, dass es ein Junge wird. Es wird ein Mann. Dieser Satz lässt mich nicht mehr los, als ich Nele bitte, zu erzählen.
Es gibt nicht nur diesen einen Anfang, nicht nur den Anfang von Neles Geschichte. Es gibt viele Anfänge. Los geht’s.
Anfang 1: Nele sitzt an der Bar im Ilses Erika. Ein Bekannter fragt »Knutschen?« Anfang 2: Die WG-Party ist langweilig und es ist spät geworden. Eine Frau zieht sich ins Schlafzimmer zurück und legt sich hin. Jemand betritt das Schlafzimmer. Anfang 3: Das Konzert im Conne Island ist fast vorbei. Die Frau am Bühnenrand wird von der Band HGich.T spontan auf die Bühne geholt.
Es gibt mehr von diesen Anfängen. Viel mehr. Das muss uns klar sein.
Die Geschichten, die sich aus diesen Anfängen ergeben, sind nicht willkürlich gewählt. Sie haben einen gemeinsamen Fixpunkt. Leipzig. Und nein, diese Geschichten werden sich im Laufe des Textes nicht zu einem wilden Plot aufschaukeln, um in einem fulminanten Showdown aufeinanderzutreffen. Diese Geschichten laufen parallel, hier und überall, das ist das einzige, dass sie verbindet.
Nele lacht kurz auf, will nicht knutschen und sagt das auch. Komische Frage – aber nichts passiert. Es wird getrunken, sie ist mit einer Freundin unterwegs, der Bekannte gibt noch was aus, die Stimmung ist gut. Nele wird müde, der Bekannte schlägt vor, noch einen Kaffee zu trinken. Nele wird noch müder und willigt ein. Er ruft ein Taxi. Sie steigt ein. Steigt wenig später eine Treppe hoch. Sie ist so müde, sie kann nicht mal sagen, wo sie sich befindet. Er kocht ihr einen Tee. Sie trinkt. Dann spürt sie den Kontrollverlust und spürt auch, dass sie trotzdem keine Angst hat. Da ist Vertrauen, man kennt sich ja. Was soll schon passieren. Sie legt sich angezogen aufs Bett, will nur noch schlafen. Dann Blackout.
Leipzig ist schön. Aber selbst, wenn man das will, kann man hier nicht in einer Blase leben oder sich einreden, das alles gut ist. Dass das, was in den Nachrichten und im nächsten Viertel und im Nachbardorf abgeht, nichts ist, was uns passiert. Es gibt sie, diese Ecken, da denkt man noch, die müssten es besser wissen, die Leute da. Warum passiert das trotzdem in linken, aufgeklärten Kreisen? In Lebensräumen, in denen es sowas wie das Diskussions- und Vernetzungscafé »Männlichkeit im Widerspruch« gibt, wo Männer sich treffen können, um Männlichkeit kritisch zu hinterfragen. Wo es Strukturen gibt wie den Antisexistischen Support, Awarenessteams, und Podiumsdiskussionen. Natürlich, das Bestehen dieser Strukturen zeugt nicht von der Abwesenheit sexistischer Gewalt, im Gegenteil, sie bezeugen deren Vorhandensein, sie bennenen sie und machen sie sichtbar. Gewalt gegen Frauen ist kein Problem der Leipziger Linken. Es ist ein Problem der Gesellschaft. Die Linke ist und bleibt Teil davon. So einfach ist das.
Im Ankündigungstext zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Zweimal nein heißt einmal ja?« vom 28.04.2020 heißt es »Wer immer noch glaubt, dass linke, emanzipatorisch auftretende Kollektive und Zusammenhänge vor gesamtgesellschaftlichen Phänomenen des Sexismus und der Geschlechterungleichheiten geschützt sind will dies auch entweder glauben, hat den Schuss gesellschaftlicher Vermittlung nicht gehört oder sollte vielleicht einfach mal Augen und Ohren auf einer Party im Conne Island oder dem IFZ offen halten.«
Auf dem linken Festival Monis Rache waren Frauen auch nicht sicher. Ein Mann aus dem Organisationsteam filmte einige von ihnen heimlich auf dem Klo und verdiente mit dem Hochladen und Verkaufen der Aufnahmen mehrere Tausend Euro.
Was dann passiert
Nele erwacht am nächsten Vormittags in einem fremden Haus, in einer fremden Wohnung, in einem fremden Bett. Ihre Kleidung liegt neben ihr. Der Mann liegt in einem anderen Raum auf dem Sofa. Sie weiß nicht so recht, was jetzt zu tun ist. Sie legt sich kurz zu ihm, es wird nicht geredet. Also nimmt sie den Bus nach Hause. Sie schämt sich irgendwie, Mittags im Bus, in ihrer Partykleidung.
Nele macht einfach weiter. Politische Arbeit, Studium, Geld verdienen, was trinken gehen. Ein Jahr später erzählt Neles beste Freundin von einer Vergewaltigung. Ihr wird schlecht, dann kommt alles wieder hoch – die Erinnerungen, von der sie dachte, dass sie nicht mal existiert, der Tee, in dem was drin gewesen sein könnte, die Kleidung, auf dem Boden, der Sex mit Kondom, in den sie nicht einwilligen konnte. Die Vergewaltigung, der Vertrauensmissbrauch.
Die Aftershowparty der Gruppe HGich.T ist abgebrochen worden. Die Polizei wird ins Conne Island gerufen. Die achtzehnjährige Frau wurde hinter der Bühne von einem Bandmitglied vergewaltigt. Ihre beste Freundin ist Zeugin geworden, der Mann nach ihrem Erscheinen nach draußen verschwunden. Spuren werden gesichert, Aussagen aufgenommen, der 45 Jahre alte Sven-Peter P. kommt in Untersuchungshaft.
Auch die WG-Party ist mittlerweile vorbei. Die Frau erzählt einer Freundin am nächsten Tag, was nachts in dem Zimmer passiert ist. Dass der Partygast sie vergewaltigt hat. Die Freundin nimmt Kontakt zu ihm auf.
Es ist ein Phänomen: Je mehr man sich mit diesen Geschichten beschäftigt, desto mehr fällt auf, wie sehr sie sich unterscheiden von all dem, wovor uns unsere Mütter, Tanten, Schwestern und Großmütter immer gewarnt haben. Zumindest meine Großmutter ließ mich noch mit achtzehn Jahren selbst bei abendlichem Gewitter nicht allein nach Hause laufen. Mein Cousin musste mich begleiten. »Wer weiß, wer da im Busch hockt.« Es regnete in Strömen und rein statistisch gesehen, hätte sie mich vor meinem Cousin warnen müssen – nicht vor dem bösen Unbekannten. Es sind selten diese Fremden, die Monster, von denen so gern gesprochen wird. Es sind auch keine unmenschlichen Taten. Sie werden von Menschen begangen, das Patriarchat bringt sie hervor, erzeugt und erhält seine Macht gleichermaßen auch dadurch.
Medien und Öffentlichkeit
Nele macht nicht mehr einfach weiter. Sie kann nicht. Sie ist traumatisiert, wird arbeitsunfähig. Schließlich schreibt sie dem Mann einen Brief. Es gibt sonst niemanden, der ihr bestätigen kann, was damals zwischen ihnen passiert ist. Er ist kein Teil der Szene mehr. Sie hat ihn lange nicht gesehen. Eine Antwort bekommt sie nie. Die Geschichte bricht ab.
Nele findet heraus, dass sie nicht die einzige ist, die von ihrem Bekannten zum Opfer gemacht wurde. Sie schreibt einen offenen Brief. Plakatiert mit ihren Freund*innen ganz Leipzig. »Es soll keine weiteren Betroffenen geben«, steht jetzt an zahlreichen Wänden. Und: »Der Täter bist du!« Sie wendet sich an den Verein Frauen für Frauen e.V. und will Anzeige erstatten.
Der Mann, den die Freundin aufsucht, ist kein Unbekannter. Es ist der Inhaber des Pivo und des Rimini in Leipzig Connewitz. Nachdem er mit den Vorwürfen konfrontiert wurde, richtet er zur Klarstellung eigens eine Website ein, auf der am 27.4.2020 folgendes zu lesen ist.
»Nach ein paar Tagen werde ich von einer Freundin der Betroffenen angeschrieben, ob wir uns treffen können. Ich sage zu und wir treffen uns gemeinsam mit einer weiteren Person zum Gespräch. In selbigem wird mir mitgeteilt, dass ich in besagter Nacht sexuell übergriffig gegenüber der betroffenen Frau wurde. Ich war geschockt, aber habe sofort zu Verstehen gegeben, dass ich nichts davon abstreite, da ich weiß, dass ich ein Problem habe, welches darin besteht, dass ich nachts sexuell aktiv werden kann, wenn ich neben einer Person schlafe. Unter Einfluss von Alkohol ist das Risiko höher. Ich habe im Anschluss keinerlei Erinnerung an das, was geschehen ist. In diesem Zustand habe ich teilweise die Augen offen, spreche, vor allem sehr versaute Sachen, die ich normalerweise nicht in den Mund nehmen würde. Sexuell aktiv werden bedeutet in dem Fall, dass ich anfange zu „kuscheln“, küssen möchte und wenn man es nicht unterbindet kann es bis zum Geschlechtsverkehr weitergehen. Das alles weiß ich, weil ich das Problem schon jahrelang mit mir rumschleppe.«
Ich lese das und muss beinahe lachen. Aber gut, ich will auch nichts unversucht lassen, also recherchiere ich nach einer medizinischen Erklärung für das oben beschriebene Verhalten. Ich stoße auf einen englischsprachigen Artikel auf der Wikipedia-Website, sie trägt den Titel »Sleep Sex«. Kurz gefasst: Das Phänomen, das auch als Sexsomnia bekannt ist, ist wohl nichts anderes als eine Form des Schlafwandelns und wird mit Stress, Drogenkonsum und Schlafstörungen in Verbindung gebracht. Von Masturbation bis sexuellen Handlungen an und mit anderen Personen ist alles möglich. »Although they may appear to be fully awake, individuals who have sexsomnia often have no recollection of the sexual behaviors they exhibit while asleep.« Die Diagnose Sexsomnia wurde tatsächlich schon bei Gerichtsverfahren von Anwälten zur Entlastung ihrer Mandanten angewendet. Ich bin skeptisch.
Das Conne Island tritt am 8.1.2020 an die Öffentlichkeit. »Beim Konzert des Musik- und Performance-Kollektivs HGich.T hat ein männliches Mitglied der Gruppe eine Besucherin vergewaltigt. Der Vorfall ereignete sich am Ende der Live-Show in einem schlecht einsehbaren Bereich der Bühne. Das Kollektiv hatte die betroffene Frau – wie einige andere Gäste – zuvor spontan in die Performance eingebunden. Im Anschluss drängte sie der Täter zu sexuellen Handlungen. Kurz nach dem Übergriff wandte sich die Frau mit ihren Freundinnen und Freunden an das Team des Conne Islands. Die Abendverantwortliche entschied gemeinsam mit ihnen und der Security des Ladens, das Konzert abzubrechen, den Saal zu räumen und die Polizei zu rufen. Gegen 2 Uhr nachts war die Kriminalpolizei vor Ort, sicherte Beweise und vernahm die Betroffene, den Täter und die ZeugInnen.«
Da steht es also ohne große Druckserei. Vergewaltigung. Polizei rufen. Vor allem, wenn ein linker Laden beschließt, sofort die Polizei einzuschalten, wird klar, wie Ernst die Lage ist.
Ich stelle mir vor, aktives Teil der linkspolitischen Community zu sein: Wie muss das sein, wenn eine Instanz, die ich als solche ablehne, zunächst mal die einzige ist, die mir rechtlich gesehen helfen kann, wenn ich Opfer sexueller Gewalt werde? Melde ich mich, auch wenn ich aus zahlreichen Berichten weiß, wie demütigend die Anzeige bei der Polizeit sein kann? Melde ich mich, obwohl ich und mein Umfeld nichts von der Polizei halten? Vielleicht. Doch vielleicht fühlt sich das dann trotzdem nicht nach Hilfe an.
Status Quo
Nele wird eine Anwältin empfohlen, die ihr wenig Hoffnung macht. Der Vorfall liegt zweieinhalb Jahre zurück, es steht Aussage gegen Aussage. Ganz davon abgesehen, dass das Rechtssystem nicht bekannt dafür ist, Frauen in einer solchen Situation glauben zu schenken. Da gibt es immer noch die Mär von der Rächerin, die den Mann in den Ruin treiben will. Die Aufmerksamkeit braucht. Oder einfach psychisch labil ist. Eines ist die vergewaltige Frau in den, meist männlichen, Augen vor Gericht nämlich häufig nicht: vertrauenswürdig.
Nele entschließt sich nach einer Therapie dennoch zur Anzeige. Die Akte ist jedoch längst abgelegt. Die Anwältin wollte wohl keinen Fall annehmen, der keine Aussicht auf Erfolg hat.
Nachdem die Öffentlichkeit von der Vergewaltigung durch den Inhaber der Sportbar Pivo und den angeschlossenen Imbiss Rimini erfahren hat, ist die Kneipe das Ziel zahlreicher Attacken. »No Sexism – verpiszt euch!«, steht auf der Schaufensterscheibe, die einige Sprünge hat. Im Pflaster der Straße fehlen Steine.
Nele fühlt sich, als würde sie wieder bei Null anfangen. Sie wendet sich an die Opferhilfe Sachsen e.V. Sie bekommt einen Termin bei der Polizei und eine Begleitperson, die sie dort unterstützen soll. Sie erstattet Anzeige. Der Mann verweigert die Aussage, die Anklage wird schließlich fallen gelassen. In der zweiseitigen Begründung wird unter anderem erklärt: Wer allein Treppen gehen kann, kann sich eine viertel Stunde später auch gegen eine Vergewaltigung wehren.
Der Inhaber des Pivo und des Rimini lebt nicht länger in Leipzig. Die Läden haben dichtgemacht. Mein Sohn ist bereits zur Welt gekommen, als ich diesen Text fertig schreibe. Ich laufe jeden Tag mit ihm durchs Viertel. Vorbei an der unscheinbaren Fassade, die wegen der zahlreichen Tags und Graffiti mit dem übrigen Straßenzug zu verschmelzen scheint. Das Conne Island hatte sich zuletzt entsetzt über die Berichterstattung in der LVZ gezeigt, die die Vergewaltigung in einem Artikel zum Prozess vom 10. September diesen Jahres detailliert schilderte. Kurz darauf verurteilt Richterin Ute Fritsch Sven-Peter P. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung, sowie 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Fast zwei Stunden spreche ich mit Nele über opferorientierte Täterarbeit, Defintionsmacht und die Verschärfung des Sexualstrafrechts nach der Silvesternacht in Köln 2015. Nele ist umgezogen, wohnt jetzt näher am ehemaligen Tatort. Versucht, sich frei zu fühlen, wenn sie durch die Straßen geht. Und ich, ich will mich nicht mehr schämen, ich will meine Geschichte zurück. So viele Anfänge, so wenige Enden. Beim Spazieren lese ich jeden Tag an der Mauer einer Unterführung den Schriftzug: Schützt eure Töchter. Jemand hat den Satz durchgestrichen und darunter geschrieben: Erzieht eure Söhne!