»Frei – das wollte ich sein«, begründet Hans D.*, 52 Jahre alt, seinen Schritt in die selbst gewählte Wohnungslosigkeit. Diese Entscheidung liegt 20 Jahre zurück. Damals ahnte er noch nicht, dass er sie eines Tages bitter bereuen würde... Ein Portrait von Anja Naumann, Redakteurin der Straßenzeitung KiPPE.
»Frei – das wollte ich sein«, begründet Hans D.*, 52 Jahre alt, seinen Schritt in die selbst gewählte Wohnungslosigkeit. Diese Entscheidung liegt 20 Jahre zurück. Damals ahnte er noch nicht, dass er sie eines Tages bitter bereuen würde... Ein Portrait von Anja Naumann, Redakteurin der Straßenzeitung KiPPE.
1989: Mauerfall – die lang ersehnte »Freiheit«. Klar, dass diese Freiheit etwas kosten musste, aber dafür würde man doch auch viel bekommen, oder? Hans kostete sie seine Anstellung als Koch in einer Leipziger Großküche. »Plötzlich war unsere Arbeit nicht mehr gefragt. Assietten-Essen wurde eingeführt und damit auch neues Personal. Die alte Belegschaft musste gehen. Ich war einer der Ersten, die entlassen wurden.«
Zur gleichen Zeit scheiterte die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin. Er zog aus und überließ ihr die Wohnung. Doch Hans dachte sich: etwas Positives hat die neue Situation ja doch – endlich frei sein. In den Westen wollte er, nach Stuttgart, seine Eltern suchen.
Ich frage mich, warum? Hans erzählt, dass er in Stuttgart zur Welt gekommen sei. Aufgewachsen ist er jedoch bei den Großeltern in Leipzig. »Ich war drei Jahre und mein jüngerer Bruder gerade ein Jahr alt, als die Eltern uns nach Leipzig brachten. Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen.« Daran sollte sich leider auch nach der Wende nichts ändern. Das Ergebnis seiner Reise nach Stuttgart war niederschmetternd – der Vater sei verstorben, die Mutter war nicht auffindbar. Enttäuscht kehrte Hans nach Leipzig zurück.
»Hier traf ich einen alten Kumpel. Gemeinsam zogen wir um die Häuser. Eine Wohnung zu suchen kam mir nicht in den Sinn. Ungebunden wollte ich sein, keine Verantwortung mehr übernehmen. Trotz hatte sich in mir entwickelt. Wenn schon im beruflichen und familiären Bereich die »neue Freiheit« nicht das hielt, was sie versprach, so wollte ich sie wenigstens dort haben, wo ich selbst entscheiden konnte. Und das war die Wohnungslosigkeit.« Hans gesteht ein: »Die Angst davor, mich anpassen und mit den Nachbarn auskommen zu müssen, war ebenfalls ein Grund, mir keine Wohnung zu suchen.«
Der gelernte Karosseriebauer und Koch zog es vor, mit seinem Freund in alten Waggons auf den Abstellgleisen im Bahnhof zu übernachten. »Zu Anfang ging alles gut«, sagt er. Doch die Winter waren kalt. Um die Kälte nicht so sehr zu spüren, fingen die Freunde an zu trinken – Bier und Schnaps – erst wenig, dann immer mehr, bis der Alkohol den Alltag dirigierte. »Von da an drehte sich die Spirale nach unten, ohne dass ich es so richtig wahrhaben wollte«, erinnert sich Hans. »Aus dem Bahnhof mussten wir raus. Eine Zeit lang schliefen wir am Zentralstadion, aber aus Angst vor Angriffen zogen wir uns immer mehr dorthin zurück, wo es dreckig ist. Da kommt kaum einer hin.«
Das möchte ich genauer wissen. »Nun – wir schliefen zum Beispiel am Auensee oder am Kulkwitzer See mitten im Schilf. Dort sah man uns nicht so leicht. Ich trug Lederhosen, da konnte ich mir früh den Dreck einfach abklopfen.«
Und im Winter? »Ja, die Winter waren schon krass. So lange mein Kumpel dabei war, verbrachten wir viel Zeit ‚draußen’, das heißt zum Beispiel in Abrisshäusern. Die waren damals teilweise noch ganz gut ausgestattet. Doch man musste vorsichtig sein, denn man wurde leicht entdeckt. Wir haben es erlebt, dass uns jemand fand und raus jagte. Am nächsten Abend kamen wir wieder. Da war alles so hoch zugemauert, dass wir nicht mehr rein konnten. Jetzt weiß ich, es war ein schlimmer Zustand. Die Gedanken kreisten jeden Tag nur noch um die Fragen: Woher bekomme ich Geld, Alkohol, Essen und einen Schlafplatz. Harte Drogen nahm ich nie. Da bin ich bis jetzt froh drüber. Wir kamen mit diesen Typen auch nicht so gut aus. Die waren unter sich, genauso wie wir, die wir getrunken haben.«
»Dann kam die Zeit als mein Kumpel wegging – nach Stuttgart. Auf der Straße allein zu sein ist nicht gut. Freunde hat man keine. Von da an übernachtete ich häufiger in öffentlichen Häusern, vor allem im Winter. Es gab zum Beispiel das Obdachlosenheim für Männer in der Scharnhorststraße, und die Oase stellte eine Zeit lang einen Bus, der uns in verschiedene Kirchen brachte, damit wir dort schlafen konnten.« Im Obdachlosenheim half Hans in der Küche aus. Außerdem wandte er sich an den Verein für Wohnungslose »Vier Wände« in Wahren. Mit dessen Hilfe schaffte er den Schritt zum Arbeitsamt, meldete sich arbeitslos, bekam daraufhin monatlich 600 DM und war fortan nicht mehr vom Sozialamt abhängig. Sogar eine kleine Wohnung wurde ihm vermittelt, die er allerdings nicht halten konnte und nach einem halben Jahr wieder verlor.
Hans musste noch tiefer fallen, um aufzustehen. Er war an das Leben auf der Straße zu sehr gewöhnt. Seine Selbstachtung hatte er fast verloren. Die Spirale drehte sich weiter nach unten. Was war aus der anfänglichen Freiheit geworden? Ganze 15 Jahre sollten vergehen, bis Hans es zutiefst bereute, dass er sich 1989 gegen eine Wohnung entschied.
Wie kam es dazu? »Dass es ein Fehler ist, sich so gehen zu lassen, habe ich schon früher gemerkt – immer als das schlechte Gewissen kam, aber das spült man runter. Doch dann wurde ich krank. Da half kein Alk mehr, im Gegenteil – er zwang mich in die Knie. Die Zigaretten taten ihr Übriges und dazu noch die kalten Winter ...« Bronchitis und Lungenentzündung sind nur zwei der Krankheiten, die eine Reihe von Krankenhausaufenthalten notwendig machten.
Dennoch, sagt Hans, habe er immer einen Rest seiner Würde behalten. »Man hat mir nicht angesehen, dass ich obdachlos war.« Gleichzeitig appelliert er an andere Betroffene: »Waschen kann man sich überall. Keiner muss aussehen wie ein Lump.« Vielleicht war es auch dieser Rest positiver Lebenswille, der Hans Anfang 2008 einen Entschluss fassen ließ, der seinem Leben eine neue Richtung wies. Es ging ihm wieder einmal schlecht. Er kam erneut ins Krankenhaus. Doch dieser Aufenthalt sollte bisher der letzte sein. »Dort war es soweit: Ich begriff, dass ich sofort mit dem Rauchen und Trinken Schluss machen muss, sonst würden mich diese Drogen ganz zerstören.«
Heute, ein knappes Jahr später, kann Hans mit Stolz sagen: »Ich bin trocken.« Und nicht nur das. Er bewohnt ein WG-Zimmer im Betreuten Wohnen, lässt sich weiterhin ärztlich untersuchen, um wieder richtig gesund zu werden und hofft, in absehbarer Zeit eine Beschäftigung zu finden. Die Eiszeit ist endlich vorbei ...
*Name von der Redaktion geändert