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off campus – Die neunte Woche

Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 9: Reptilienhirn

  off campus – Die neunte Woche | Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 9: Reptilienhirn

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.

Reptilienhirn

Es ist eine Binsenweisheit, dass der Mensch in erster Linie ein Augen- und in zweiter ein Ohrentier ist. Trotzdem ist es immer wieder interessant zu beobachten, was unsere vernachlässigten anderen drei Sinne mit uns so alles anstellen können, wie viel tiefer alles, was mit Riechen, Schmecken und Tasten zu tun hat, in unserem un- oder höchstens halbbewussten Innersten verarbeitet und gespeichert wird. An jenem Ort, der, was in diesem Zusammenhang wirklich passend erscheint, oft »Reptilienhirn« genannt wird.

Es geschieht wohl jeder und jedem hin und wieder, dass einem ein Geruch – und für Geschmäcker gilt hier Ähnliches – urplötzlich mit schier unglaublicher Intensität an Orte und Zeiten zurückversetzt, die einem längst entglitten schienen. Weil diese Art von Erinnerungsblitzen sich auf einer rein sinnlichen Ebene abspielen, gelingt es dem vernunftbegabten, ordnenden Teil des Ich aber häufig gar nicht, das mit einem solchen bestimmten Geruch verbundene Gefühl mit einer wirklich konkreten Erinnerung zu verbinden. Man weiß in solchen Momenten nur: Da war doch mal was... Ich habe schon mehr als einmal versucht, eine Auflistung solcher Erinnerungsgerüche zu beginnen, aber wenn man über diese Gerüche auf jene eben rationale Art nachzudenken beginnt, für die im Schweizerdeutschen der treffende Begriff »hirnen« existiert, sind sie wie weggeblasen. Erinnerungen an Gerüche sind so flüchtig wie diese selbst.

Eine der wenigen Geruchs-Erinnerungs-Verbindungen, die mir gerade doch präsent ist, bezieht sich bezeichnenderweise auf einen artifiziellen, von menschlicher Technik als solchen hergestellten Duft, der zudem in meinem Leben mit großer Kontinuität vorkommt: Das unprätentiöse Nivea-Aftershave, das mein Vater benutzt seit ich denken kann und ich selbst, seit ich mich rasiere. Motiviert durch meine eigene Faszination für Gerüche und die erstaunlich tiefgründigen Texte des Parfümkritik-Gurus Luca Turin, spiele ich hin und wieder auch mit dem Gedanken, in einen richtigen Herrenduft zu investieren – Zeit, Geld und peinliche Momente in Geschäften, für die ich noch nicht mal das Passende anzuziehen hätte. (Denn der maßgeschneiderte Anzug gehört in genau dieselbe Kategorie von Kaufüberlegungen.) Aber manche Erfahrungen haben den Wert, den ich der Parfümeurkunst zuzuschreiben geneigt bin, stark relativiert. Damit ist nicht nur eingeschränkt öffentlichkeitstaugliches Lob der Unverfälschtheit gemeint, das man sich in diesem Zusammenhang leicht denken kann, sondern auch die lakonische Feststellung meiner Mitbewohnerin Lena, dass für sie nichts erotischer rieche, als frisch und mit dem richtigen Waschmittel gewaschene Kleider.

Auch Erfahrungen des Tastsinnes, auf den mit den hübschen Fremdwörtern »taktil« und »haptisch« referiert wird, graben sich auf ganz eigene Weise in das menschliche Empfinden ein. Konkreter, benenn- und erinnerbarer als Gerochenes oder Geschmecktes, scheint mir, aber doch weniger selbstverständlich als Gesehenes oder Gehörtes. Ob sie bestimmte, auch unscheinbare Dinge gerne anfassen oder nicht, können nach meiner Erfahrung die allermeisten Menschen mit erstaunlicher Sicherheit sagen. Ich hatte in Zürich einen Mitbewohner, der eine regelrechte Phobie vor allen samtigen und samtähnlichen Oberflächen hatte. Demgegenüber finde ich selbst es beispielsweise auf eigentümliche Weise befriedigend, die Vakuumverpackung von gemahlenem Kaffee aufzustechen. Dieses Nachgeben der zuvor scheinbar harten Oberfläche, wenn das Messer der Luft von außen einen Weg bahnt – einmalig! Und für solche Phänomene kennt unsere Sprache noch nicht einmal ein eigenes Wort. »Gefass«, »Getast« – Fehlanzeige. »Gefühl« ist schon vergeben – entkörperlicht und überhöht.

An was für Gerüche und »Gefasse« aus meiner Zeit in Leipzig ich mich wohl dereinst erinnern werde? Wieder: Schwierig zu benennen. Aber sicher mal alles, was mit Braunkohle zu tun hat. In Körbe schmeißen, Treppen hoch tragen, in Öfen kunstvoll aufbeigen und beim Verbrennen riechen. Ich mag den Geruch.


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