Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Tageszeiten
Nachts, Fieber. Ein Gefühl, das im Moment unglaublich stark ist und sich im Nachhinein doch kaum in Worte fassen lässt. Eine Hitze, die eigentlich angenehm ist. Umfassend, wohlig. Die einen aber trotzdem nicht schlafen lässt, sondern in einer eigentümlichen Halbwachheit gefangen hält, in der einem die eigenen Gedanken eine Zirkusvorstellung darbieten. Und man selber ist einer der dummen Neureichen, die eine teure Karte für die erste Reihe gekauft haben, ohne zu bedenken, dass der Clown sich immer genau dort die Opfer für seine Späße sucht. Man muss mitmachen.
In Fiebergedanken hat man immer eine Rolle, eine Aufgabe, eine Konfrontation zu bewältigen – mit sich selbst beziehungsweise seinen Gedanken, die plötzlich mehrere Identitäten annehmen. Und auch so etwas wie eine physische Form. Ein Gedanke liegt links neben einem im Bett, der andere rechts und sie stellen abwechselnd zwei Stunden lang die immer gleichen Fragen. Wenn das immer so weiter ginge, wenn man nicht irgendwann doch aufstehen, das Fenster öffnen, aufs Klo gehen, einen Schluck Wasser trinken und einschlafen könnte – so müsste sich wohl Wahnsinn anfühlen.
Vormittags, in einem Café. Beim Umblättern streift eine Seite meines »Spiegel« den Cappuccino-Schaum. Ich wische ihn mit einem Finger weg, lecke ihn von diesem ab, und muss an die »Simpsons« denken. Es gibt eine Folge, in der die Hälfte der Haushalte in Springfield eine neue Telefonvorwahl erhält. Bei einer Bürgerversammlung beschwert sich Homer Simpson, dass nur reiche Bewohner die alte Vorwahl behalten dürften. »Stimmt doch gar nicht!«, entgegnet ein Herr mit Monokel. Kurz darauf fällt ihm dieses in das Champagnerglas, das er in der Hand hält. Zwischen mir und meinem Bruder, mit dem ich mich zeitweise beinahe ausschließlich mittels Simpsons-Zitaten unterhalte, ist die Formel »Oh, mein Monokel ist mir in den Champagner gefallen!« seither eine Art Synonym für offensichtliche geldaristokratische Abgehobenheit.
Der Vorfall im Café führt mir vor Augen, wie eine solche Getränke-Missgeschicks-Typologisierung auf zahlreiche soziale Gruppen ausgeweitet werden könnte. Oh, meine altdeutsche Filterplörre ist über das Spitzentischdeckchen ausgeleert. Damn it, ich habe mich derart erregt durch die ins Bodenlose fallenden Börsenkurse auf dem Display meines Handys geklickt, dass ich meinen Cocktail umgestoßen habe. Mist, ich zittere schon wieder so, dass ich mein Sternburg zur Hälfte auf dem Gehsteig verschütte. Oh nein, mein Ayurveda-Tee tropft durch den undichten Boden meines selbstgetöpferten Bechers aufs Didgeridoo. Hilfe, das Waldmeister-und-Limette-Leichtbier verschmiert meinen Lippenstift. Oder eben: Na toll, jetzt häng ich meinen »Spiegel« (meine »Neon«, mein »ZEIT-Magazin«) in meinen Cappuccino (meinen Latte macchiato, meinen Espresso).
Und selbstverständlich füge ich diese Varianten für den Typus »Junger Möchtegern-Kaffeehaus-Intellektueller« vor allem ein, um noch kurz auf die Titelgeschichte des vorletzten ZEIT-Magazins aufmerksam machen zu können: »Tanz auf dem Vulkan – Das neue Lebensgefühl der Jugend« (oder so ähnlich). Hm, war da nicht jemand ein bisschen schneller? Wo bleiben meine Tantiemen?
Nachmittags, an einer Straßenbahnhaltestelle. Wer oder was ist eigentlich »JCDecaux«? Das steht auf all den Kästen in den Haltestellenhäuschen, in die die großen Werbeplakate gehängt werden. Jean-Christophe de Caux, ein französischer Adliger, der den Leipziger Reklamemarkt beherrscht? Ich werde mir ein wenig fantasieanregende, unzeitgemäße Unwissenheit gönnen, und dies vorläufig nicht googeln.