Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Sprachen und Wörter erleben
Semesterferien. Wieder mal in Zürich und sofort ab ins Kino. Hier kann ich einen nicht-deutschen Film anschauen gehen, ohne damit rechnen zu müssen, der Tortur der Synchronisation ausgesetzt zu werden. Auch wenn wir Deutschschweizer oft schlechter Französisch können und die »Welschen« noch viel schlechter Deutsch, als es sich für ein tatsächlich mehrsprachiges Land geziemen würde (von Italienisch und Rätoromanisch ganz zu schweigen), so scheint diese Eigenheit auf verschlungenen Wegen doch dazu geführt zu haben, dass in Schweizer Kinos Originalfassungen mit Untertiteln den Normalfall darstellen.
In deutscher Nachvertonung laufen praktisch nur phantasielose Romantik- oder Action-Kisten aus Hollywood, und zwar nachmittags in den großen, hässlichen Popcorn-Palästen, auf dass die Vorstadt-Teenager ihre Unterhaltung so intellektuell anspruchslos serviert bekommen, wie sie diese erwarten – und verdienen. Denn genau das ist, um es einmal deutlich zu sagen, der angemessene Rahmen für Synchronfilme, die in den Augen eines jeden kultivierten Menschen als schweres Geschmacksverbrechen zu gelten haben. Ich habe schon oft trübsinnig deutsche Kinoprogramme durchgesehen und mich gefragt, wie ein bestimmter Film überhaupt synchronisiert werden kann. Aktuelles Beispiel: »Gomorra«. Wird da der neapolitanische Dialekt vielleicht durch Schwäbisch ersetzt, weil das auch irgendwie südlich ist, auf Deutschland übertragen, oder wie?
Die Sprache ist ein inhärenter Bestandteil eines kulturellen Werkes und dass man Bücher sinnvollerweise nicht untertiteln kann, kann als Ausrede im Bezug auf Filme nicht herhalten, sondern sollte einen vielmehr motivieren, mehr Sprachen zu lernen, damit man auch mehr Bücher im Original lesen kann. Denn welche Welten tun sich einem auf, wenn man den Charakter einer Sprache erst einmal in seiner vollen Eigenständigkeit erfassen kann! Von mir selbst kann ich das bisher leider nur in Bezug auf das Englische behaupten, aber schon diese eine Vergleichsmöglichkeit ist immer wieder eine spannende Sache.
Auf Englisch lassen sich beispielsweise Wörter – und damit ihre Bedeutung – vergleichsweise einfach abwandeln. Aus »five o’clock« wird »five o’clock-ish« – ungefähr fünf Uhr. Im Deutschen bedient man sich hingegen gern der Zusammensetzung von Wörtern, was zu so schönen Begriffen wie »reisefertig« oder »halbherzig« führt. Seit ich nach Leipzig gezogen bin, habe ich auch tolle, für mich neue, zusammengesetzte Wörter gelernt: »Brachenschwein« beispielsweise – eine Lindenauer Nutztiervariante. Andere Wortzusammensetzungen muss man gleichsam immer wieder mal aufs Neue erleben, um ihre Bedeutung wirklich zu verstehen. »Fremdschämen« beispielsweise.
Auf einer meiner vielen Zugfahrten zwischen Leipzig und Zürich, im Speisewagen. Es ist nur noch ein Platz an einem Vierer-Tisch frei. Mir gegenüber sitzt eine ungefähr fünfzigjährige, gepflegte Deutsche, die in einem dicken Buch liest. Neben ihr ein Schweizer im gleichen Alter, Typ mittleres Kader eines mittleren Unternehmens, der ausnahmsweise auf eine Geschäftsreise geschickt wurde, weil gerade niemand anders zur Verfügung stand. Seine Haut hat diese schwammige Weißheit, die der langjährige Konsum traditioneller, fleischreicher Kost mit sich bringt. Seine Kleidung ist ein Konvolut miteinander ringender Karo- und Streifenmuster, das es schafft, zugleich fad und viel bunt zu wirken und mich damit irgendwie an die achtziger Jahre zu erinnern, was etwas heißen muss, wenn man bedenkt, dass ich bis zum Ende jenes Jahrzehnts knapp jenes Alter erreicht hatte, an das man überhaupt bewusste Erinnerungen haben kann.
Der Mann flirtet unbeholfen mit seiner Tischnachbarin, macht auf wissenschaftlich-weltmännisch. Als der Kellner erst sein Geschirr abräumt und dann noch einmal zurückkommt, um ihre Bestellung entgegenzunehmen, kommentiert er: »Jaja, one-track-brain, Männer können nicht gleichzeitig aufräumen und einen Gedanken aufnehmen. Frauen können das.« Ich werde wieder sehr viel gutes Deutsch zu sprechen versuchen müssen, um in der allgemeinen Akzent-Klischee-Bilanz die von ihm geäußerten »Gedoncken« wettzumachen. »Manche Männer könnten das wohl schon auch«, entgegnet sie, automatisch, knapp, uninspiriert. Aber es ist schon abzusehen, dass er das als Einladung verstehen wird, weiterzumachen. Nein, damit meint sie sicher nicht dich, würde ich ihm am liebsten sagen. Aber ich verkrieche mich nur hinter meine Zeitung und mache dort ein Gesicht, als würde mir langsam eine Zehe ausgerissen und ich dürfte dabei nicht schreien. Fremdschämen halt.