anzeige
anzeige
Kultur

»Es ist lächerlich, aber es ist so«

Die Leipziger Filmemacherin Susanne Schulz begibt sich in »White Box« auf die Spur von Hartz-IV-Empfängern

  »Es ist lächerlich, aber es ist so« | Die Leipziger Filmemacherin Susanne Schulz begibt sich in »White Box« auf die Spur von Hartz-IV-Empfängern

„Zimmer zu“ lautet die Devise für Hartz-IV-Empfänger im sächsischen Löbau. Denn Bezugsberechtigten von Arbeitslosengeld steht nach deutscher Gesetzgebung nur eine bestimmte Quadratmeteranzahl an Wohnraum zu. Ist dieser zu groß, muss ein Zimmer verschlossen werden. Susanne Schulz las in der Zeitung darüber und machte sich auf die Suche nach Betroffenen. Ihre idealistische Idee, etwas Mystisches hinter den verschlossenen Türen zu finden, musste sie schnell beiseite schieben. Stattdessen fokussierte sie sich auf die Menschen in diesen Wohnungen und erzählt nun in ihrem Dokumentarfilm "White Box" deren Geschichten. Heute Abend präsentiert Susanne Schulz ihren Film in der Schaubühne Lindenfels – und auch einige ihrer Protagonisten werden anwesend sein.

Julia ist 16 Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Mutter lebt sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Löbau-Ost, einer kleinen Plattenbau-Siedlung in Ostsachsen, die im Volksmund als »Klein-Moskau« bekannt ist, weil hier viele russische Spätaussiedler leben. Julia ist eine davon. Sie ist ein typischer Teenager, liebt Musik und träumt von einem besseren Leben. Anfangs hatte sie in der Wohnung noch ein eigenes Zimmer. Doch das wurde, wie so viele Kinderzimmer in diesem Viertel, vom Amt verschlossen. Seit dreieinhalb Jahren teilt sich Julia nun die verbliebenen zwei Räume der Wohnung mit ihrer Mutter.

Der Ausgangspunkt für den Film »White Box« war eine Schlagzeile: »Löbau schließt Hartz-IV-Empfängern Zimmer zu.« Susanne Schulz las in der Zeitung darüber. Empfängern von Arbeitslosengeld steht nach deutscher Gesetzgebung nur eine bestimmte Quadratmeteranzahl an Wohnraum zu. In Löbau-Ost mangelte es allerdings an kleinen Wohnungen und so verriegelte man kurzerhand das Zimmer, das zu viel war.

Über zwei Jahre lang hat die Leipzigerin im sächsischen Löbau den Alltag von Jugendlichen und Erwachsenen beobachtet. Von der anfänglichen Idee, die leeren Zimmer von den Anwohnern selbst gestalten zu lassen, verabschiedete sich Schulz schnell. »Niemand dort hatte so richtig Lust dazu. Eigentlich war das immer nur ich, die diese Zimmer irgendwie füllen wollte.« So schob die 34-jährige ihre idealistische Herangehensweise und den zwanghaften Wunsch, etwas Mystisches hinter den verschlossenen Türen zu finden, beiseite. Stattdessen fokussierte sie sich auf die Menschen dort. Wie richtet man sich ein Leben ein an einem Ort, an dem die Perspektiven verschwinden und sich nicht mehr wirklich viel tut?

Schulz begleitet nicht nur russische Jugendliche, sondern auch einen ehemaligen Professor, der den Verlust seiner Arbeit bis heute nicht verwunden hat. Prof. Dr. Klatte war Leiter eines Lehrstuhls und hat mit großer Leidenschaft unterrichtet. Seit 1992 ist er arbeitslos. Klatte kann sich nur schwer mit der jetzigen Situation in Löbau abfinden. Gemeinsam mit ihm streift Schulz durch die graue Fassaden-Landschaft und redet über vergangene Zeiten. Klatte erinnert sich zurück und erzählt, wieviel Leben hier einmal war – bis der große Einbruch kam. »Vorher war ich erfolgreicher Leiter eines Lehrstuhls und dann war ich die Nummer 648 auf dem Arbeitsamt. Ich habe mich von meiner Vergangenheit nicht getrennt. Ich träume noch sehr stark und schreibe noch Lehrbücher. Es ist zwar lächerlich, aber es ist so.« Betreten lächelt Klatte und verschwindet zwischen den Platten.

Susanne Schulz verwebt in ihrem ersten langen Dokumentarfilm verschiedene Lebensentwürfe, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Auf den zweiten Blick allerdings offenbaren sich die feinen Verbindungen zwischen Spätaussiedlern, Arbeitslosen und Rentnern. Alle kämpfen mit den Spuren der Vergangenheit, mit Hartz-IV und dem Verlust ihrer Wurzeln.

»White Box« ist ein sehr persönlicher Film, der sich ganz behutsam den Menschen in Löbau-Ost nähert und ein einfühlsames Porträt vom Osten Deutschlands, 20 Jahre nach der Wende, zeichnet. Wo sich in Löbau einst das Leben abspielte, in Schulen, Konsumhallen und auf Spielplätzen, wuchert heute Unkraut über den Wegesrand und versuchen Menschen, das Beste daraus zu machen.

»White Box« feiert Premiere auf dem diesjährigen Dok-Festival. Heute Abend präsentiert Susanne Schulz den Film persönlich in der Schaubühne Lindenfels – und auch einige ihrer Protagonisten werden mit anwesend sein.


Kommentieren


0 Kommentar(e)