Zwischen hohen, kalten Gemäuern, spitztürmigen Hotel- und Bürokomplexen und Franchising-Cafés am Potsdamer Platz werden intime und mitreißende Geschichten erzählt. Ein Zwischenbericht von der 61. Berlinale von unserer Filmredakteurin Eileen Reukauf.
Der Potsdamer Platz in Berlin mit seinen spitztürmigen Hotel- und Bürokomplexen ist anonym und kalt. Ein Ort ohne Geschichte, der künstlich hochgezogen wurde, um Touristen anzulocken. Selbst als Berliner dürfte man sich hier seltsam fremd fühlen. Und doch wird dieser geschichts- und gesichtslose Ort einmal im Jahr zum Schauplatz intimster Erzählsamkeit. Seit sechs Tagen widmet sich die 61. Berlinale den Entdeckung neuer Formen und Tendenzen im Weltkino.
Mit einer bewegenden Botschaft des iranischen Jurymitglieds Jafar Panahi feierte die Berlinale vergangene Woche ihren Auftakt: Der Filmemacher konnte nicht zum Festival nach Berlin reisen, weil er zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. Nachdem Jurypräsidentin Isabella Rossellini seinen Brief vorgelesen hatte, gab es im Berlinale-Palast reichlich Applaus für den couragierten Regisseur. Immer wieder wurde seither Panahis gedacht und von mitfühlenden Kollegen und Filmfreunden darauf aufmerksam gemacht, dass der Entzug des Rechts auf Filmemachen dem Entzug persönlicher Freiheit gleiche.
Persönlichkeitsrechte, zwischenmenschliche Konflikte, die Liebe und zeitaktuelle Krisenherde stehen im Fokus des Filmfestes. Einer der bewegendsten Wettbewerbsbeiträge kommt aus Panahis Heimatland: »Nader und Simin, eine Trennung« von Asghar Farhadi. Am Anfang scheint es nur um eine Scheidung zu gehen. Nader und Simon sind seit 15 Jahren verheiratet und stehen nun vor dem Scheidungsrichter in Teheran. Sie will das Land verlassen, weil es ihr hier zu schwierig wird und er will bleiben, um seinen alzheimerkranken Vater zu pflegen. Sie will die 14-jährige Tochter Termeh mitnehmen, er möchte sie da behalten. Der Richter weigert sich zu entscheiden und entlässt beide in ein Leben, dass sich von nun an unendlich und bedrohlich komplizieren wird.
Asghar Farhadi hinterließ schon vor zwei Jahren mit »Elly« Eindruck auf der Berlinale. Mit seinem neuen Film rüttelt er an den Grundfesten des menschlichen Daseins: das Vertrauen innerhalb der Familie wird brüchig, religiöse Vorschriften erschweren den Alltag, die schwierige Lage Naders ist repräsentativ.
In einem weiteren Wettbewerbsbeitrag, »The Turin Horse«, lässt Béla Tarr Endzeitstimmung aufkommen. Er schildert die Geschichte eines Bauern und seines Pferdes und nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise ans Ende der Welt – in die sturmumfegte Gegend um Turin. Dort wohnt ein Mann, der mit Kutschfahrten in die Stadt mühsam seinen Lebensunterhalt verdient. Doch sein Pferd ist schwach. In beeindruckenden Bildern inszeniert, wird Tarrs Film dennoch zu einer knapp zweieinhalbstündigen Herausforderung. Fast ohne Sprache und mit bewegender Musik beobachten wir in manchmal beängstigender Ruhe den trostlosen, Kraft zehrenden Tagesablauf; immer wieder geht die Frau zum Wasser holen, immer wieder pfeift der Wind durch jede Ritze des Hauses und immer wieder sitzen der Mann und die Frau nichtssagend und sich abwendend herum.
Vor ausverkauftem Saal lief am Dienstag Abend im Panorama »Even the Rain«, ein Film von Icíar Bollaín, der von einem jungen Regisseur (Gael García Bernal) erzählt, der in Bolivien für ein Eroberungsdrama um Christopher Columbus »Indios« castet. Seine Ambition ist, eine längst überfällige Geschichtskorrektur mit seinem Film vorzunehmen. Doch: die Wirklichkeit holt die Filmleute schneller ein und in die Gegenwart, als ihnen lieb ist. Ein erbitterter Gleichheitskampf macht die Dreharbeiten zunehmend unmöglich.
In den intimen Alltag eines Mitdreißiger-Paares taucht die renommierte Performance-Künstlerin Miranda July ab. In »The Future« erzählt sie von der Entfremdung eines modernen Paares mit permanenten Internetanschluss und zeigt, wie alle Versuche scheitern, private und berufliche Wünsche zu erfüllen – nicht nur an den eigenen Ängsten, sondern auch an der vertrödelten Zeit in der virtuellen Welt.
Zeit vertrödeln sollte man auf der diesjährigen Berlinale lieber nicht. In den verbleibenden Tagen laufen noch einige sehenswerte Filme im Programm: Die deutsche Schauspielhoffnung Sandra Hüller zeigt sich in gleich zwei Filmen: »Über uns das All« im Panorama und »Brownian Movement« im Forum. Ebenso im Forum präsentiert die ARD eher am Rande der Berlinale einen hochkarätigen Dreier: Das ambitionierte Fernsehprojekt »Dreileben«, das Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler zusammenführte und in dem es um einen entflohenen Sexualstraftäter geht, feierte am Montagabend Premiere. Die drei Regisseure haben jeweils einen Teil geschrieben und gedreht. Verbunden sind die Filme nur durch ihren Handlungsort und einen Kriminalfall, der mal den Hintergrund, mal das Zentrum des jeweiligen Filmes besetzt.
Und nicht nur deutsche Filmgrößen geben sich die Ehre in Berlin. Mittwoch Abend werden Colin Firth und Helena Boham Carter zur Premiere von »The King's Speech« auf dem roten Tepppich erwartet. Wer einen Blick darauf erhaschen will, sollte sich vorzeitig an den Geländern vor dem Berlinale-Palast niederlassen. Denn Schlange stehen und durch Menschenmengen wühlen sind dieser Tage beliebte Aktionen unter den Berlinern und ihren internationalen Gästen.