Das Missverständnis ist keine Absicht, sondern ein Glücksfall: Immer wieder fragen Besucher in der Halle 14, was das Porträt von Ai Weiwei in der Ausstellung »Changes« über die Folgen des 11. Septembers 2001 zu suchen habe. Der dort Abgebildete sieht dem chinesischen Künstler zum Verwechseln ähnlich.
Doch beider Biografien könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Verhaftung des einen, des bekannten Dissidenten, löste mächtigen Protest aus; jedes Land der westlichen Welt nähme Ai Weiwei gern auf. Die Verschleppung des anderen blieb unbemerkt. Er gehört zum Volk der Uiguren, das in China Unabhängigkeit anstrebt und von der Volksrepublik als terroristisch eingestuft wird. Nach Afghanistan geflohen, geriet der Verschleppte 2002 in die Hände der US-Truppen, die für mutmaßliche Terroristen Kopfgeld zahlten, und landete in Guantánamo. Seine Haft endete mit einem sauberen Freispruch, doch seiner Entlassung stand eines im Weg: Niemand wollte ihn und die anderen Uiguren aufnehmen. Das hätte Stress mit der Wirtschaftsmacht China bedeutet, welche die Auslieferung der »Terroristen« forderte.
Als erstes Land pfiff Albanien auf Peking und ließ 2006 fünf der Guantánamo-Insassen ins Land. 2009 erklärte sich der pazifische Inselstaat Palau bereit, die übrigen Uiguren aufzunehmen. Ai Weiwei-Doppelgänger Adel Noori und fünf seiner Leidensgenossen nahmen das Angebot an. Zeitgleich provozierte der Künstler Christoph Faulhaber in Hamburg Bürgerängste mit der Vision, in der Hafencity Wohnraum für ehemalige Guantánamo-Insassen zu schaffen. Als er hörte, dass Palau vollbringt, was Deutschland verweigerte, reiste er mit Filmemacher Daniel Matzke in das Inselparadies. Die in Palau entstandenen Filme und Interviews sind in Halle 14 ebenso präsent wie das Baustellenschild, das vorgeblich im Namen der Hansestadt ein »Guantanamo Aufnahme Lager« ankündigt.
Faulhabers großer Coup jedoch besteht darin, dass er die Uiguren in gewisser Weise wirklich an China auslieferte – und zurückholte. In Dafen, dem Weltzentrum für kopierte Gemälde, gab er Porträts der sechs Männer in Auftrag. Die entstandenen Ölbilder, 60 mal 80 Zentimeter groß, dienten als Vorlage für Poster, die in der Ausstellung hängen und dem Mao-Bild am Tor des himmlischen Friedens an Größe kaum nachstehen.
Den Uiguren brachte die Militäraktion Enduring Freedom eine fast acht Jahre dauernde Haft ein. Helmut Smits Video »The End« hingegen nennt in einem Kinoabspann alle Soldaten, die im Kampf für die »dauerhafte Freiheit« ihr Leben ließen. Hunderte Namen fließen vorbei, sortiert nach Nation und Zeitpunkt des Todes. Ende nicht in Sicht, gefallen wird weiter. Zu einem Abspann gehört aufrüttelnde Musik. Smits wählte »The Letter« der Box Tops und Jim Croces schwermütiges »Time in a Bottle«, beide vom »Good Morning, Vietnam«-Soundtrack. Die Lieder begleiten den Besucher durch die Ausstellung, Bedeutungen überlagern sich. Etwa beim Blick auf »Zero Anaphora« (»Nullanapher«) des Iraners Shahab Fotouhi, eine Installation aus zwei von der Decke hängenden Leuchtröhren – Zwillingstürmen aus Licht, radial umschwärmt von einem Heer Libellen in allen Farben des Regenbogens. Eine blumige, vieldeutige Arbeit. Eine melancholische auch, betrachtet man das reine Licht als die Leerstelle (Zero), die rückverweist (Anapher) auf die positiven Attribute des Melting Pots New York City.
Kurator Frank Motz pflegt einen offenen Kunstbegriff, der zu Recht auch Agenturbilder von Magnum-Fotograf Thomas Hoepker und Fotoreportagen von Nina Berman umfasst. Bilderstrecken, die zum einen die Betroffenheit im New York des 9/11 vergegenwärtigen, andererseits die Folgen für die gesamten USA verdeutlichen: verstümmelte Soldaten, Militarisierung des Alltags, Bevölkerung in Kampfbereitschaft. Eins von Bermans Fotos zeigt einen jungen Mann im Matsch liegend, Hände und Gesicht nach oben an einen Maschendrahtzaun gepresst, entstanden vielleicht bei einer Katastrophenübung, von der Symbolik weit darüber hinausreichend. Ist das die Lage, in die Bushs Cowboytum die USA manövriert hat? »If I had a box just for wishes / And dreams that had never come true …«, singt da Jim Croce aus dem Off.
Ein totes Hippiemädchen liegt in der Ecke (Elke Marhöfer), Robert Longo lässt in den Lauf einer Pistole blicken, Harun Farocki analysiert, wie die Maschinen sehen lernten und unsere Wahrnehmung verändern (»Auge/Maschine«), und Wolfgang Staehle zeigt in Anlehnung an Thomas Coles fünf Gemälde umfassendes Werk »Course of Empire« auf fünf Monitoren seine Vision vom Untergang einer Kultur. Insgesamt eine Schau, die eine stimmige Balance findet, weder lautstark anklagt noch wegsieht.