anzeige
anzeige
Stadtleben

»Achtsamkeit ist nicht Wellness«

Susanne Krämer beschäftigt sich an der Uni Leipzig mit Achtsamkeit in der Bildung – auch in Bezug auf den Klimawandel 

  »Achtsamkeit ist nicht Wellness« | Susanne Krämer beschäftigt sich an der Uni Leipzig mit Achtsamkeit in der Bildung – auch in Bezug auf den Klimawandel   Foto: Christiane Gundlach

Sonne scheint auf die Türme von orangenen Meditationskissen, die sich in der Ecke des Raumes sammeln, daneben hängen Matten. Ungewohnte Ansicht für einen Uni-Seminarraum. Hier, am Zentrum für Lehrer:innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig, üben sich Studierende regelmäßig in Bodyscan, Yoga oder in der Geh- und Sitzmeditation. Heute begrüßt uns hier Susanne Krämer zum Gespräch. Sie leitet das Projekt »Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur«, in dessen Rahmen Studierende und Dozierende Achtsamkeitskurse belegen können und gleichzeitig an einer Studie über deren Effekte teilnehmen. Warum der Klimawandel darin eine wichtige Rolle spielt und wie Engagement und Achtsamkeit Hand in Hand gehen können, erklärt uns die wissenschaftliche Mitarbeiterin.


Mindfulness bzw. Achtsamkeit ist in aller Munde: Was meint das eigentlich?

Achtsamkeit ist das bewusste Wahrnehmen von sich und von der Umwelt, um eine Reflexion von eigenen, aber auch gesellschaftlichen Mustern anzustoßen. Und um daraus resultierend Verantwortung zu übernehmen: Für sich selbst, für andere und für die Umwelt.

 

Warum, glauben Sie, ist die Nachfrage nach Ihren Kursen so hoch?

Viele Studierende kommen, weil sie das Studium als überfordernd empfinden und belastet sind. Es ist von der Forschung sehr gut belegt, dass Achtsamkeit eines der wirksamsten Mittel gegen Stress ist: Vergleichbar effektiv wie medikamentöse oder therapeutische Mittel. Sie befähigt uns nämlich zu mehr Gelassenheit, mehr Freundlichkeit mit sich und anderen und dazu, schwierige Emotionen anzunehmen und zu regulieren.

 

Das Programm setzt einen Fokus auf nachhaltiges Handeln, einige Sitzungen thematisieren explizit den Klimawandel. Worin liegt die Verbindung zur Achtsamkeit? Naiv gefragt: Stresst uns der Klimawandel nicht alle zusätzlich?

Es gibt ein schönes Zitat von Mark Twain: »Natürlich interessiert mich die Zukunft. Ich will schließlich den Rest meines Lebens darin verbringen.« Ich halte es für unser aller gesellschaftliche Aufgabe, uns mit unserer Umwelt zu beschäftigen. Die Achtsamkeit kann hier helfen, um ein wirkliches Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir ohne diese Grundlage nicht bestehen können, und zu sehen: Weltsorge ist immer auch Selbstsorge.

 

Wie kann Achtsamkeit darin konkret helfen?

Da gibt es drei Hauptsäulen. Zum einen kann Achtsamkeit den Naturbezug stärken. Wenn ich stärker meinen Bezug zu ökologischen Systemen wahrnehme, also ein systemisches Denken entwickle, realisiere ich, dass meine Gesundheit direkt mit der Gesundheit der Umwelt verbunden ist. Deshalb veranstalten wir auch Seminare draußen im Park, um uns der Verbundenheit zur Natur bewusst zu werden.

Die zweite Säule hat auch mit der Wahrnehmung von Interdependenz zu tun – der mit anderen Menschen. Es geht darum, eine globale Identität zu stärken. Sich selbst zugehörig zur Menschheit zu empfinden, ermöglicht es, über Grenzen hinweg Verantwortung zu übernehmen.

Und die dritte ist, sich den Emotionen stellen zu können, die der Klimawandel in uns auslöst. Wir können beobachten, dass wir als Gesellschaft davon überfordert sind und Unangenehmes verdrängen. Das ist ein eigentlich gesunder psychologischer Mechanismus. Gerade wenn wir nicht das Gefühl haben, selbstwirksam zu sein, also etwas verändern zu können, verfallen viele in die Strategie des Ausweichens. Deshalb ist es so wichtig zu lernen, schwierige Emotionen halten zu können und nicht davon überschwemmt zu werden.

 

Sie sprechen von systemischem Denken und globaler Identität. Das widerspricht dem stereotypen Bild von Achtsamkeit, das an ihr kritisiert, dass sie den Fokus so sehr aufs Individuum legt und zu übertriebener Selbstzentrierung verleitet – also vom Aktivwerden abhält.

In der Achtsamkeit geht es nie darum, besser auf den Kissen zu sitzen, sondern immer darum, eine Bewusstseinshaltung zu kultivieren, die im Alltag zum Tragen kommt, und sich so in den eigenen Wirkräumen einzubringen. Für mich ist das um sich selbst kreisende Verständnis von Achtsamkeit eher Wellness und Entspannung: Bilder, die wir vor Augen haben, zeigen meditierende Frauen an Bergseen. Wunderschön. Ich habe volles Verständnis dafür. Aber es ist nicht der Kern dieser Kulturtechnik.

 

Sondern?

Die Wirklichkeit wahr- und anzunehmen, Verantwortung zu übernehmen – und die Chance, Gesellschaft so zu gestalten, wie wir es möchten, und nicht zwangsläufig so anzunehmen, wie wir sie kennen.

 

Wo fängt man da an? Sie sprachen von eigenen Wirkräumen.

Es ist nicht so, dass ich durch meine individuellen Entscheidungen, etwa, nicht mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen, den Klimawandel aufhalten werde. Aber wenn ich das zum Beispiel in meinem Umfeld erzähle, Kolleginnen, meiner Familie, kann ich vielleicht ein Vorbild sein und den eigenen Handabdruck stärken. Wir können uns fragen: Wer sagt, dass uns eine Flugreise glücklich macht? Das sind Bilder, die über Jahrzehnte so gesetzt wurden. Diese Bilder können wir aufbrechen und dahinterschauen: Was macht mich wirklich glücklich? Wenn wir das in den Formaten fragen, kommt oft als Antwort: Es ist für mich ein erfülltes Leben, wenn ich weiß: Ich habe nach meinen Werten gehandelt und mein Bestes versucht.

 

Viele Aktivismusformen bauen auf vermeintlich negativen Emotionen auf: Angst, Wut, Verzweiflung, Schuld. Steht das der Idee eines achtsamen Aktivismus entgegen?

Schuld ist als Klima-Emotion wichtig, denn sie ist ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich gegen unsere Werte handeln. Aber nicht, wenn sie uns in eine hilflose Ohnmacht führt. Viele Klimaaktivist:innen nähren sich aus Dystopien und Schreckensbildern. Ich glaube, dass es lohnt, die Utopie in den Vordergrund zu rücken. Wir können Menschen nur zu einem Wandel einladen, wenn wir klare Möglichkeiten aufzeigen, auf die wir zugehen wollen. Dazu gibt es ja wunderbare Szenarien und gangbare Lösungen aus der Forschung. Was fehlt, ist die Vermittlung dieser Bilder, aber auch des Wissens, dass unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsform ganz viel Unglück und psychische Erkrankungen befördert und dass wir gekoppelt an Veränderung vielleicht zu einem erfüllteren Leben kommen. Die zweite Problematik bei Angst und Wut ist, dass sie einen oft entweder so sehr überrollen, dass man sich ins Private zurückzieht, oder im Gegenteil dazu führen, über die eigenen Grenzen hinauszugehen.

 

Aktivismus-Burnout ist kein seltenes Phänomen.

Ich arbeite außerhalb der Universität ehrenamtlich mit jungen Aktivist:innen. Manche erzählen mir, dass sie nach zwei Jahren ausgebrannt sind und nichts mehr damit zu tun haben wollen, weil das so frustrierend und anstrengend ist. Deshalb ist Achtsamkeit sehr wichtig in Bezug auf Engagement, um Frustrationstoleranz für anstrengende und langwierige Prozesse zu entwickeln, aber auch, um eigene Grenzen wahrzunehmen und die kleinen Schritte wertzuschätzen, um die Selbstwirksamkeit zu stärken.

 

All das wird in den Seminaren thematisiert?

Ja, und das Schöne dort ist, das Ganze nicht allein zu machen. Es geht sehr viel um Austausch. In der Gruppe merkt man: Es ist keine Privatangelegenheit, sondern eine gesellschaftliche, politische, die uns alle betrifft. Interessanterweise sprechen die Studierenden oft nicht selbst das Thema an, weil sie das Gefühl haben: Da redet keiner drüber. Oft melden sie eine Erleichterung zurück, endlich auf Menschen zu treffen, mit denen man darüber sprechen und die eigene Gefühlslage zeigen kann: Auch Frustration und Enttäuschung. Das Bewusstsein über den Klimawandel ist ja da. Aber was die Einstellung zum eigenen Handlungsraum angeht, haben sich viele schon zurückgezogen. Diskussionen darüber führt man vielleicht nur noch in den engsten Kreisen und nicht in der Öffentlichkeit. Diese eigentlich selbstverständliche Auseinandersetzung mit der Thematik und ein konstruktives, gemeinschaftliches Überlegen haben nur wenige Räume.

 

Es gibt erste Auswertungen der Studie. Konnte dieser Gemeinschaftsraum Effekte auf die Haltungen zur Klimakrise bewirken?

Ja, wir haben in der dreisemestrigen Studie mit Prä- und Postbefragung und zwei Kontrollgruppen unterschiedliche Bereiche abgefragt, einerseits bezogen auf den individuellen Verhaltensbereich: Konsum, Nahrung, Transport, Wohnen. Andererseits geht es in den Fragebögen auch um das gesellschaftliche und politische Engagement, darunter die Bewusstseinsbildung im Freundes- und Bekanntenkreis. Den individuellen Bereich darf man meiner Meinung nach nie getrennt von der systemischen Ebene kommunizieren. Alle gesellschaftlichen Veränderungen werden von Individuen angestoßen oder verhindert. Wir haben herausgefunden, dass das Programm nicht nur Achtsamkeit erhöht und Stress reduziert, sondern auch das pro-ökologische Verhalten ansteigen lässt: Also genau das, was wir uns erhofft haben.

 

Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Wir sind bereits mit anderen Unis, zum Beispiel Dresden und Chemnitz, im Austausch, die Achtsamkeitskurse anbieten möchten. An der Uni Leipzig ist das Projekt bis mindestens 2027 gesichert und wir sind jetzt dabei, auszuloten, wie eine Verstetigung aussehen kann. Und wir möchten weiterhin die Forschungsfrage stärker in den Fokus des wissenschaftlichen Diskurses rücken: Was können wir gesellschaftlich mit Achtsamkeit bewirken? Da gibt es im Gegensatz zu Achtsamkeit und Stressreduktion derzeit noch sehr wenige Studien. Dabei brauchen wir dringend diese Perspektive, um eine andere Ansprache für Themen wie die Klimakrise zu finden und eine emotionale Verbundenheit zu etablieren.

 

Das Projekt findet in Schulen und an der Uni statt. Warum ist Achtsamkeit gerade in der Bildung so wichtig?

Junge Menschen gestalten die Zukunft von morgen. Es ist der Auftrag der Bildung, denke ich, ihnen die dafür nötigen Qualitäten mitzugeben: Resilienz, Veränderungsbereitschaft und Frustrationstoleranz. Laut einer Studie von 2021 in zehn verschiedenen Ländern geben 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, Zukunftsangst in Bezug auf das Klima zu haben. Deshalb ist es essenziell, dass die Lehrenden die Fähigkeiten haben, das mit den Schüler:innen zu thematisieren. Gerade in Schulen sollte man Emotionen nicht ausklammern, sondern den jungen Menschen Instrumente mitgeben, damit umzugehen. Das ist auch für ein gesundes Lernen wichtig.


> Mehr Infos finden Sie hier

 


Kommentieren


0 Kommentar(e)