Mystique wirkt lustlos und jault. Obwohl es noch früh am Morgen ist, soll sie bereits nach draußen. Ihr Frauchen, Bianca Weigert, will los zum Hautbahnhof, sie muss pünktlich den Zug erwischen. Für den Weg dorthin ist sie auf den Hund angewiesen. Sie ist von Geburt an blind und ihre schwarze Hündin ein ausgebildeter Blindenhund. Weigert arbeitet beim sächsischen Sehbehinderten- und Blindenverband in Dresden.
Im Zentrum ihrer Arbeit steht die von Louis Braille erfundene, aus Punkten bestehende Blindenschrift. Wenn neue technische Geräte auf den Markt kommen, die den Alltag von Sehbehinderten erleichtern sollen, schreibt Weigert Bedienungsanleitungen oder spricht sie für Hör-CDs ein. In ihrer Wohnung stapeln sich Magazine auf dem Couchtisch: Ratgeber oder der Newsletter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB), die ihren Sitz in der Gustav-Adolf-Straße im Waldstraßenviertel hat. Doch keine bunten Cover zieren die Hefte, sondern Kombinationen aus sechs Punkten – die Buchstaben der Blindenschrift, gedruckt auf dickes, weißes Papier. »Man sieht nur mit dem Herzen gut« – dieser Spruch steht in Braille-Schrift auf Weigerts Kaffeetasse. Während die 37-Jährige daraus trinkt, spricht sie über ihre eigentliche Herzensangelegenheit: Sie arbeitet als ehrenamtliche Punktschriftlehrerin.
Aus ihrer täglichen Praxis weiß sie, dass diejenigen, die einen konkreten Grund haben, die Schrift am besten lernen. »Ein alter Mann wollte unbedingt seine Schallplatten beschriften. Der hat das ziemlich schnell gelernt«, erzählt Weigert über einen ihrer Schüler. Derzeit unterrichtet sie aber Sehende: »Für die Mitarbeiter der Zentralbücherei hier in Leipzig ist es wichtig, die Punktschrift zu beherrschen.« Denn Reklamationen werden von den Lesern zum Teil in Punktschrift verschickt. Außerdem hilft es, Fehler in den Druckerzeugnissen zu finden.
Jacqueline Schönefeld ist Nutzerin der Bibliothek, führt aber gemeinsam mit ihrem Mann auch ehrenamtlich Kinder durch die Bücherei. Sie gehört zu denjenigen, die vollständig erblindet sind. Das betrifft gerade mal ein Prozent der Menschen mit Sehbehinderungen. 1987 verlor sie ihr Augenlicht infolge einer Netzhautablösung. Ab 1989 nahm sie an der sogenannten Grundrehabilitation teil. Neben dem Umgang mit alltäglichen Dingen wurde ihr auch die Punktschrift beigebracht. Auch ihr Mann Maurice hat die Schrift erlernt. Seine Frau lernte er kennen, als er bereits erblindet war. Bei ihm war ein Hirntumor schuld, der seinen Sehnerv schädigte. »Damals ging für mich eine Welt unter. Hätte ich einen Strick oder meine Dienstwaffe noch gehabt, wer weiß …«, sagt der ehemalige Bundeswehrsoldat.
Heute profitiert das Ehepaar Schönefeld vom Service der DZB. Anders als gewöhnliche Bibliotheken schickt die Blindenbücherei ihren Nutzern die Bücher nach Hause. Da die Schönefelds die Braille-Schrift nicht so gut beherrschen, greifen sie gerne auf die Audioangebote der Bibliothek zurück. »Zumal von den rund 100.000 Büchern, die pro Jahr auf den Markt kommen, nur etwa 2.000 in Punktschrift umgesetzt werden«, sagt Jacqueline Schönefeld. Ihren Einkaufszettel schreibt sie in Punktschrift – mit einer blauen Maschine aus DDR-Produktion. »Das ist unsere Erika-Picht« – Jacqueline Schönefeld deutet auf die schwarze Walze und die sieben weißen Tasten davor. Mit sechs von ihnen werden die sechs Punkte der Blindenschrift geschrieben, die siebte dient als Leertaste. Muss Schönefeld zum Beispiel noch Brot einkaufen, nimmt sie starkes Papier, eine Karteikarte etwa, spannt es in das Gerät ein und fängt wie auf einer gewöhnlichen Schreibmaschine an zu tippen. Für Bianca Weigert, die nie sehen konnte, hat die Schrift eine ganz persönliche Bedeutung: »Es ist die einzige Schrift, die ich lesen kann. Ohne sie wüsste ich ja gar nicht, wie man bestimmte Wörter schreibt. Was man selbst liest, bleibt auch besser haften als Gehörtes.«
In dieser Woche nun findet in Leipzig der Weltkongress »Braille21« der Weltblindenunion statt. Weigert wird dort Workshops abhalten: »Blindenschrift für Einsteiger, kleine Übungen, aber auch praktische Anwendungen, etwa um Tablettenschachteln erkennen zu können«, umreißt sie die Inhalte. Weigert setzt sich deshalb so sehr für die Verbreitung der Punktschrift ein, weil die Zahl ihrer Nutzer sinkt. Neue elektronische Hilfsmittel, Hörfassungen von Texten und Computer mit Vorlesefunktion, sagt sie, bedrohen die Blindenschrift: »Aus den drei ›Herr der Ringe‹-Teilen sind 15 riesige Bücher in Punktschrift entstanden. So was stellt sich niemand ins Regal. Die Leute greifen eher auf Hörbücher zurück.«