»Wie haben Sie den 9. Oktober 1989 erlebt?« Henny Kellner lässt Menschen vor laufender Kamera von ihren Erinnerungen an diesen Tag erzählen. Um daran zu erinnern, dass die Demokratie hart erkämpft wurde, wie sie sagt.
»Ein Foto von mir? Ach je, wenns sein muss«. Henny Kellner lacht verlegen und streicht sich eine Locke aus dem Gesicht, als sie für ein Bild zu diesem Text fotografiert werden soll. Sie fotografiere ja leidenschaftlich gerne andere Menschen, aber selbst vor der Kamera zu stehen, sagt sie, das sei nichts für sie. Henny Kellner – eine Theaterwissenschaftlerin, die ursprünglich Psychologie studieren wollte – beobachtet und analysiert lieber selbst.
Für ihr Projekt »Wir bleiben hier« lässt sie Menschen vor laufender Kamera erzählen, wie sie den 9. Oktober 1989, den Höhepunkt der Friedlichen Revolution, erlebt haben. »Jetzt haben wir noch die Möglichkeit diese Menschen zu befragen. Das ist eine große Chance«, sagt sie. 120 Interviews mit Zeitzeugen möchte sie in einem Dokumentationszentrum der Nachwelt erhalten, um zu zeigen, dass sich die Menschen damals die Demokratie erkämpfen mussten – und es auch weiterhin tun müssen. »Demokratie ist ein anstrengender Prozess, der viel Arbeit macht«, sagt Kellner.
Die 55-Jährige ist Landesvorstandssprecherin des Vereins »Mehr Demokratie in Sachsen«, und als Leipziger Mitorganisatorin der Acampada-Bewegung geht sie heute wieder Montag für Montag auf die Straße. Ihr Wunsch, Psychologie zu studieren, scheiterte einst daran, dass an den Unis der DDR bevorzugt junge Männer angenommen wurden, die drei Jahre lang in der Armee gedient hatten. Ungerecht fand sie das. Wie so vieles in der DDR.
Am 18. September 1989 nahm sie das erste Mal an den Montagsdemonstrationen teil – aus Neugier. Um nicht aufzufallen, trug sie einen Blumenstrauß mit sich und beobachtete das Geschehen aus einigem Abstand. Hätte ein Polizist sie gefragt, wo sie hin möchte, hätte sie gesagt, sie wolle zum Geburtstag einer Arbeitskollegin: »Ich hätte mich wie ein Verräter gefühlt, wenn ich nicht mitgegangen wäre.« Das Gefühl von damals beschreibt sie als Mischung aus großer Angst und Befreiung: »Es herrschte eine große Ernsthaftigkeit, man hörte kaum jemanden sprechen.« Diese Mischung hat sie weder vor den Montagsdemonstrationen noch danach jemals wieder erlebt.
Für ihr Vorhaben, Erlebnisberichte der Demonstrationsteilnehmer zu dokumentieren, hat sie in den letzten Wochen viel Lob bekommen – unter anderem vom Oberbürgermeister. Nur wenn es um die Finanzierung geht, kann ihr niemand weiterhelfen.
Mehrmals während des Gesprächs klingelt ihr Handy. Diesmal ist ihr Sohn dran. Er will wissen, wann sie nach Hause komme. Kellner sucht sie in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie, um ihren Tee zu bezahlen, kramt aber zuerst ein kleines Buch heraus. Sie liest daraus vor: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Absatz zwei, Artikel 20 des Grundgesetzes. »Geiles Buch«, sagt Kellner, »hab ich immer dabei.«