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Stadtleben

»Man darf nicht schreiben, was die Leute hören wollen«

Seit Herbst betreiben die LVZ und die Sächsische Zeitung eine Gemeinschaftsredaktion – die Chefredakteurinnen Hannah Suppa und Annette Binninger im Interview

  »Man darf nicht schreiben, was die Leute hören wollen« | Seit Herbst betreiben die LVZ und die Sächsische Zeitung eine Gemeinschaftsredaktion – die Chefredakteurinnen Hannah Suppa und Annette Binninger im Interview  Foto: Christiane Gundlach

Willkommen in Madsacksen. Der Medienkonzern aus Hannover hinter der LVZ hat 2024 die ähnlich große Sächsische Zeitung (in Mittel- und Ostsachsen SZ genannt) mit Sitz in Dresden übernommen. Seit Oktober leiten LVZ-Chefredakteurin Hannah Suppa und SZ-Chefredakteurin Annette Binninger eine Gemeinschaftsredaktion. Wir treffen die beiden in Suppas Leipziger Büro zum ersten gemeinsamen Interview. Es geht um Medienvielfalt, Lokaljournalismus und die AfD bei Wasser, Cappuccino und Cola Zero.

Das Kartellamt musste der Fusion zustimmen. Was entgegnen Sie denen, die durch die Zusammenlegung die Medien- und Meinungsvielfalt in Sachsen gefährdet sehen?

HANNAH SUPPA: Das ist ein Vorwurf, den das Redaktionsnetzwerk Deutschland (überregionale Redaktion von Madsack, die Inhalte für verschiedene Regionalzeitungen liefert, Anm. d. Red.) seit Jahren hört. Ich verstehe, woher das kommt, aber ich sehe es anders. Am Ende ist es so, dass wir alles tun, um den Journalismus finanzierbar zu halten. Wie schaffen wir es, dass die Leute informiert bleiben? Aus Studien weiß man, dass es demokratiegefährdend ist, wenn niemand mehr ins Kommunalparlament schaut. Die Frage ist also: Wie können wir das erhalten und wo ist Veränderung notwendig?

ANNETTE BINNINGER: Man darf auch nicht vergessen, dass wir von der Sächsischen
Zeitung vorher die bundespolitischen Inhalte auch vom Tagesspiegel hatten. Das höchste Ziel von uns ist die Absicherung von lokalem, regionalem Journalismus. Unser Autorengremium ist jetzt viel größer – und zu sagen, dass die Meinungsvielfalt abnimmt, ist mir zu kurz und zu platt. Wir können jetzt sogar mehr Geschichten an den Start bringen.

 

Nach der Übernahme der Sächsischen Zeitung durch die Madsack Mediengruppe im vergangenen Jahr gibt es seit Oktober eine Gemeinschaftsredaktion von Sächsischer Zeitung und Leipziger Volkszeitung. Wie lautet Ihre bisherige Bilanz?

BINNINGER: Es war eine aufregende Zeit. Ich finde, dass wir uns erstaunlich schnell gefunden haben. Es klingt jetzt überschwänglich, aber wir haben uns schon gefreut, wie schnell die Kollegen miteinander ins Arbeiten gekommen sind.

SUPPA: Wir reden inzwischen mehr über Inhalte und weniger über Strukturen. Was uns geholfen hat, uns schnell als Team zu finden, ist die Tatsache, dass beide Zeitungen ein gleiches Verständnis von gutem Journalismus im Regionalen haben. So hat sich auch schnell ergeben, auf welche Themen wir Schwerpunkte setzen wollen. Am 30. Oktober haben wir alle Kolleginnen und Kollegen beider Zeitungen zu einem »Tag der Redaktion« eingeladen.

BINNINGER: Manche haben sich da das erste Mal gesehen. Man darf ja nicht vergessen: Wir waren mal Konkurrenten, vor allem in dem Bereich, in dem wir nun die Gemeinschaftsredaktion haben – bei Landespolitik, Wirtschaft und investigativer Recherche.

 

Wo sind Probleme aufgetaucht, die Sie nicht erwartet hatten?

SUPPA: Selbst die Großstädte Leipzig und Dresden unterscheiden sich, was die Debatten angeht – und doch werden ähnliche Themen in der Verkehrspolitik oder in der Wohnraumfrage diskutiert. In der Fläche Sachsens sind die Probleme und Herausforderungen, die die Menschen haben, oft auch wiederkehrend: Infrastruktur, Nahversorgung, Anbindung und vieles mehr. 

BINNINGER: Es geht darum, sensibel wahrzunehmen, was die Menschen in ganz Sachsen außerhalb der Großstädte bewegt. Ich glaube, wir haben da einen großen Bedarf, diese Unterschiede deutlich zu machen. Gerade, wenn wir wissen wollen, warum die AfD gewählt wird, lohnt es sich, genauer hinzuschauen und hinzuhören, was außerhalb der Großstädte diskutiert wird. Jetzt bekommen wir das noch sensibler mit und erhalten damit ein großes Bild von Sachsen – von Zittau bis Bautzen, von Pirna bis Dresden, von Torgau bis Döbeln. 

 

Wie kommen Sie in der Redaktion zu diesen verschiedenen Perspektiven?

BINNINGER: Wir sind gerade dabei, überall viele jüngere Leute aufzubauen und in die Redaktionen zu bringen. Die sollen auch nicht nur geprägt sein vom Journalismus der letzten Jahre, sondern ihre eigenen Perspektiven, ihre Alltagserfahrungen, Interessen und damit ihre Geschichten einbringen. Wir sind mitten in einem Generationswechsel, der uns dabei hilft, auch jüngere Leserinnen und Leser anzusprechen.

SUPPA: Die LVZ hat sich in den letzten Jahren extrem verjüngt, was uns sehr freut. Für den ländlichen Raum gelingt es uns auch gut, neue Reporterinnen und Reporter zu gewinnen – aber sie sind dort nicht immer verwurzelt, sondern haben Leipzig als privaten Fixpunkt. Ich denke aber: Wenn man als Journalist mit einem offenen und unvoreingenommenen Blick auf die Menschen zugeht, über die man berichtet, kann man das auch aus Regionen, die einem nicht naheliegen.

 

Es gibt Landkreise in Sachsen, wo 40 Prozent der Menschen AfD wählen. Wie gehen Sie mit denen um, als Leserinnen und Leser, für die Sie schreiben, aber auch als Akteure, über die Sie schreiben?

BINNINGER: Wir beobachten diese politische Entwicklung bereits seit vielen Jahren, nicht erst seit Aufkommen der AfD. In Sachsen hat bereits davor die verfassungsfeindliche NPD für Aufsehen gesorgt. Ich glaube: Ein wichtiger Punkt ist, dass wir als Redaktion immer Kurs gehalten haben im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die auch für unsere Arbeit die Basis ist. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, auch die
im Grundgesetz verankerte Pressefreiheit – das sind wichtige Kriterien, an denen jeder politische Akteur gemessen wird.

 

Auch die AfD.

BINNINGER: Der sächsische AfD-Landesverband ist vom Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextremistisch« eingestuft. Das ist eindeutig. Wichtig ist aber grundsätzlich: Man darf nicht den Fehler machen, zu schreiben, was die Leute hören wollen. Aber man darf auch nicht den Fehler machen, sich gar nicht mit den Themen zu beschäftigen, die dazu führen, dass diese Partei gewählt wird. Bei der NPD hat man klar gesagt: Das ist eine Gruppe Neonazis, die stellen wir als Wahlbewerber gar nicht vor, berichten aber trotzdem über sie, wer dort wie agiert. Mit dem Aufkommen von Pegida und der AfD ist es komplexer geworden. Da muss man sehr genau überlegen, wie man das angeht. Bei der Landtagswahl haben wir viele lokale Diskussionsforen angeboten. Aber auch das ist über die Jahre schwieriger geworden, die Stimmung ist inzwischen aggressiver. Man tut aber politischen Parteien am rechten Rand keinen größeren Gefallen, als wenn man sie nicht einlädt. Wir setzen uns damit auseinander und gehen die Themen argumentativ an. Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen, dass regionaler Journalismus weiterhin eine Zukunft haben wird – gerade in dieser unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind wir unverzichtbar und nicht ersetzbar.

 

Wie ist das für Ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort?

BINNINGER: Das ist nicht immer leicht. Ich habe in den letzten zehn Jahren immer wieder erlebt, wie Kollegen angegangen, bespuckt, vor den Redaktionen abgefangen wurden. Ich habe wirklich großen Respekt davor, dass die Kollegen dennoch Kurs gehalten haben.

SUPPA: Wichtig ist es, zu differenzieren. Als der SPD-Abgeordnete Matthias Ecke vor der Europawahl angegriffen wurde, war es richtig, darüber groß und viel zu berichten. Aber wir haben auch berichtet, dass ein AfD-Politiker in Leipzig mehrmals angegangen und verletzt wurde. Der eine Übergriff ist nicht schlimmer als der andere zu werten.

Wir hatten in den letzten Jahren mit vielen Protesten zu tun, von Corona bis hin zu den
Energiepreisen. Da kann man ja nicht sagen, die sind alle rechtsradikal, nur weil in einer Ecke die Fahne der Freien Sachsen weht, sondern muss genau hinschauen: Wer demonstriert da genau – und warum?

BINNINGER: Als Pegida angefangen hat, vor zehn Jahren, wollten wir die Leute zu Wort kommen lassen. Das waren nicht alles Nazis, da gab es anfangs noch eine große gesellschaftliche Durchmischung. Die pauschale Ausgrenzung hat dann dazu geführt, dass sich die andere Seite dahinter verschanzt hat.

 

Das Sich-dahinter-Verschanzen, das Beleidigt-sein-Wollen und Sich-ausgegrenzt-Fühlen sind ja nun aber im großen Stile da.

BINNINGER: Das stimmt. Die Fronten verhärten sich auf jeden Fall, das merkt man. Aber wir müssen trotzdem immer wieder das Gespräch suchen.

SUPPA: Wir reden keinem nach dem Mund. Wir schauen genau hin, was die Fakten sind. Wir benennen klar, wenn es um Extremismus geht, aber fragen bei lokalen und regionalen Themen auch die AfD, was die dazu sagt, und skandalisieren nicht pauschal.

 

Kleiner Themensprung: Die Taz stellt im Herbst ihre gedruckte Tageszeitung ein. Wie häufig sprechen Sie über diesen Schritt?

SUPPA: Im Moment ist das noch kein Thema. Aber natürlich müssen wir darüber
nachdenken, wie ein rein digitales Geschäftsmodell für so ein Medienhaus wie unseres in der Zukunft aussehen kann. Unsere Kollegen von der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Brandenburg haben erste Print-Ausgaben eingestellt und bieten Lokaljournalismus rein digital an – beispielsweise im Landkreis Prignitz. Die Print-Ausgabe zuzustellen, rentiert sich dort einfach nicht mehr. Nun gibt es eine digitale Ausgabe als E-Paper, eine News-App und neue Newsletter vor Ort. Die Leserinnen und Leser wurden auf dem Weg von den Kollegen der MAZ eng begleitet.

 

Frau Binninger, Sie sind 1997 nach Dresden gekommen und in verschiedenen Funktionen vor Ort in die Position der Chefredakteurin reingewachsen. Sehen Sie das als Vorteil?

BINNINGER: Ich wollte eigentlich nur zwei, drei Jahre bleiben. Mich hat die Stadt schon immer fasziniert – 1984 habe ich Dresden das erste Mal auf einer Klassenfahrt erlebt. Seitdem begeistert und fesselt mich, was hier und in ganz Sachsen an Transformation abläuft. Langweilig ist das bisher nicht geworden. Wenn es in Ostdeutschland etwas Spannendes gibt, dann ist es Sachsen. Dresden ist mein Zuhause geworden. Natürlich war es für mich zum Start als Chefredakteurin hilfreich, dass die Kollegen mich kannten und mir vertraut haben. Aber im Sinne der Veränderung kann es auch von Vorteil sein, von außen zu kommen und eben nicht in gewachsenen Beziehungen zu stehen.

 

Frau Suppa, Sie sind dagegen im Dezember 2020 nach Leipzig gekommen und mussten sofort da sein als Chefredakteurin einer regionalen Tageszeitung.

SUPPA: Mein größtes Problem war, dass ich mitten in der Pandemie gekommen bin und zwar in dem Monat, in dem Sachsen die härtesten Maßnahmen beschlossen hat. Doch als Chefredakteurin mit so vielen klugen und gut vernetzten Lokalreportern im Team habe ich schnell reingefunden – in die Stadt, das Land und unsere Redaktion. Als Journalistin hat man ja auch andere Zugänge zu vielen Menschen der Stadt. Und Leipzig ist eine wahnsinnig spannende Großstadt, hier macht es besonders Spaß, Lokaljournalismus neu zu denken. Die Stadt der Friedlichen Revolution hat sehr viel Charisma und einen großen Stolz – zu Recht. Manchmal unke ich mit Kollegen, dass hier in Sachsen in einer Woche so viel passiert wie in Niedersachsen in vier Monaten nicht.

BINNINGER: Ich habe auch gedacht, irgendwann kommen wir mal in der Normalität des Westens an, aber da sind wir immer noch nicht. Zum Glück!

 

Apropos: Wie oft bekommen Sie beide noch zu hören, dass Sie ja eigentlich aus dem Westen kommen?

SUPPA: Zum Start in Leipzig habe ich einige solcher Briefe und Nachrichten bekommen. Da waren auch viele Beleidigungen dabei. Ich kann die Vorbehalte auch erst mal verstehen, wir haben nun auch eine Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen. Jedoch ist es mir immer wichtig gewesen, die Geschichte der Menschen in den ostdeutschen Ländern zu
verstehen – ich habe vorher in Brandenburg gearbeitet und habe, glaube ich, inzwischen ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wo die Ungerechtigkeiten liegen und wo die Menschen besonders sensibel sind. Dafür ein Ohr und ein Auge zu haben und das in den Journalismus einfließen zu lassen, ist essenziell.

Und dann gab es nach wenigen Monaten bei der LVZ auch einen tollen Moment: Ein Leser, der mich für meine Herkunft kritisiert hatte, sagte, nachdem er erste Texte von mir gelesen hatte, er habe das Gefühl, ich würde die Ostdeutschen verstehen. Ein größeres Kompliment kann ich mir da nicht vorstellen.

BINNINGER: Ich habe nun mein halbes Leben in Westdeutschland, die zweite Hälfte in Ostdeutschland verbracht. Das, was Hannah gerade erzählt hat, hatte ich vor vielen, vielen Jahren, als ich bei den Dresdner Neuesten Nachrichten als Redakteurin anfing. Ich kannte niemanden und bin mit dem Papierstadtplan durch Dresden gefahren, um rechtzeitig zu meinen Gesprächspartnern zu kommen. Das war ein komplett neuer Blick und ich glaube, der tut manchmal auch im Lokaljournalismus gut. Der Vorwurf, aus dem Westen zu kommen, erreicht mich nur noch selten – wenn ich politische Kommentare schreibe, die dem einen oder anderen nicht gefallen, wird dafür ein Grund gesucht. Inzwischen ist es ja wirklich schwer zu sagen, wer Ostdeutscher und wer Westdeutscher ist. Bei vielen Gesprächen habe ich das Gefühl, dass das bei Leuten unter 40 oder sogar 50 inzwischen kaum noch eine Rolle spielt.

 


Biografie:

Hannah Suppa ist seit Dezember 2020 Chefredakteurin der LVZ. Die 1983 in Hannover Geborene hat einen Magister in Deutscher Philologie, Politikwissenschaft und Zivilrecht sowie einen Master in Digital Journalism. Seit ihrem Volontariat ging es für sie in der Madsack Mediengruppe nach oben.

Annette Binninger wurde 1968 in Mannheim geboren und studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Soziologie. Seit 1997 lebt und arbeitet sie in Dresden, erst bei den Dresdner Neuesten Nachrichten, von 2003 bis 2005 als Pressesprecherin des Sächsischen Wirtschaftsministeriums und seitdem für die Sächsische Zeitung. Dort war sie seit 2012 Politikchefin und seit 2016 Teil der Chefredaktion, ehe sie im Juni 2024 Chefredakteurin wurde. Seit Oktober leiten beide die Gemeinschaftsredaktion von LVZ und Sächsischer Zeitung.


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