Zwei ehemalige Zwangsprostituierte sagen aus, sie hätten in einem früheren Freier einen Richter erkannt. Daraufhin wird ihnen der Prozess gemacht, der nun statt im vergangenen Dezember am 6. März in Dresden beginnt. Die beiden »Sachsensumpf«-Journalisten Thomas Datt und Arndt Ginzel haben in der Dezember-Ausgabe des kreuzer erklärt, wie es dazu kam. Wir veröffentlichen an dieser Stelle noch einmal ihren Bericht.
Stell dir vor, eine Staatsanwaltschaft leitet ohne dein Zutun ein Ermittlungsverfahren ein und lädt dich als Zeuge vor. Du berichtest, woran du dich erinnern kannst. Was folgt, ist eine Anklage – aber nicht gegen die Beschuldigten, sondern gegen dich. Mit deiner Aussage sollst du sie verleumdet haben.
Ein Albtraum? Für Mandy K. und Beatrix E. ist er Realität. Ab dem 6. März müssen sich die jungen Frauen vor dem Amtsgericht Dresden verantworten. Absichtlich und zu Unrecht sollen sie zwei hohe Justizbeamte als Freier des Leipziger Wohnungsbordells »Jasmin« beschuldigt haben. Mandy und Beatrix wurden 1993 in der Merseburger Straße 115 zur Prostitution gezwungen. Mit einer Mischung aus Drohungen, Gewalt und gelegentlicher Fürsorge hatte sie der Zuhälter, ein bulliger Ex-Boxer, unter Kontrolle. Mandy und Beatrix waren damals 16. Es gab noch mehr Mädchen im »Jasmin«, auch sie meist Ausreißerinnen. Die Jüngste von ihnen: gerade einmal 13.
Die Geschichte ist lange her. Nachdem das illegale Bordell aufgeflogen war, wurde der Betreiber verurteilt. Von vier Jahren saß er knapp drei ab. Die Freier kamen ungestraft davon. Mandy und Beatrix, seine Opfer, zogen weit weg. Sie bekamen Kinder, hatten mehr oder weniger Glück mit ihren Männern, beide arbeiten. Ganz normale Leben. Wäre da nicht die Angst, die sie aus dem Bordell mitgenommen haben. Mandy bekämpft sie mit Therapien, Beatrix neigt zum Verdrängen.
2007 machte das »Jasmin« noch einmal Schlagzeilen – deutschlandweit. Justizbeamte und Immobilienmakler sollen dort verkehrt haben, hieß es in einer Datensammlung, die der sächsische Verfassungsschutz über die organisierte Kriminalität im Freistaat angelegt hatte. Was aus dem Geheimdienst in die Öffentlichkeit leckte, zeichnete ein düster-frivoles Bild von Leipzig: erpressbare Justiz-Beamte, Sexpartys in der Stadtverwaltung und durchgestochene Rotlicht-Razzien – vermerkt in den »Sachsensumpf«-Akten.
»Ich habe keine Lust, irgendwann erschossen auf der Straße zu liegen«
Das Justizministerium kündigte an, die Vorwürfe aufzuklären. Mit den Ermittlungen wurde die Staatsanwaltschaft Dresden beauftragt. Zwei Personen machten die Hauptarbeit: Oberstaatsanwalt Wolfgang Schwürzer und Staatsanwalt Christian Kohle. Im Sommer 2007 begannen sie, auch den »Jasmin«-Fall noch einmal aufzurollen. Als Beschuldigte galten zunächst die beiden Juristen, denen Besuche in dem Bordell vorgeworfen wurden: ein Gerichtspräsident und ein pensionierter Landrichter, die lange in Leipzig tätig waren. Sie wurden vernommen, pochten beide auf ihre Unschuld und bestritten den Verkehr mit Prostituierten. An die Öffentlichkeit drang davon nichts, bis Schwürzers Vorgesetzter, der Chef der Dresdner Staatsanwaltschaft, im September 2007 der Sächsischen Zeitung sagte: »Je tiefer wir graben, desto mehr heiße Luft kommt heraus, die völlig unbescholtene Bürger verbrennt – darunter auch untadelige Mitarbeiter der Justiz.« Nach monatelangen Ermittlungen endlich eine klare Aussage. Sie hatte nur einen Schönheitsfehler: Mandy, Beatrix und die anderen ehemaligen Zwangsprostituierten aus dem »Jasmin« waren noch nicht befragt worden. Obwohl sie die wichtigsten Zeuginnen waren.
Wir, zwei freie Journalisten, hatten zu diesem Zeitpunkt schon mit einigen der »Jasmin«-Frauen, die über ganz Deutschland verteilt leben, gesprochen. Auch mit Mandy, die sich unter Tränen an den Prozess gegen den Bordellbetreiber erinnerte. Seine Anwesenheit im Gerichtssaal habe sie geängstigt. Vollends verwirrt sei sie, zum Prozesszeitpunkt 17 Jahre alt, gewesen, weil ihr von der Richterbank ein Mann entgegenlächelte, in dem sie ihren großzügigen Stammkunden Ingo wiederzuerkennen meinte. Ihn identifizierte später auch Beatrix. Auch zwei weitere »Jasmin«-Mädchen machten den pensionierten Richter als früheren Freier aus, würden sich aber später vor der Staatsanwaltschaft nicht daran erinnern. Eine von ihnen sagte uns: »Ich werde mein Wissen wohl mit ins Grab nehmen. Die Leute, um die es geht, sitzen am Ende sowieso am längeren Hebel. Und ich habe keine Lust, irgendwann erschossen auf der Straße zu liegen.«
Ende 2007 erfuhren die Staatsanwälte Kohle und Schwürzer von unseren Recherchen. Endlich begannen die beiden »Sachsensumpf«-Ermittler die Frauen aus dem »Jasmin« zu vernehmen. Obwohl sie es eigentlich gar nicht mehr vorhatten, wie sie später ganz unbefangen einräumten. Mandy und Beatrix identifizierten auch vor der Staatsanwaltschaft den ehemaligen Justizbeamten als Freier Ingo, bei einem zweiten waren sie sich ebenfalls sicher. Bei stundenlangen Nachvernehmungen blieben sie dabei. Nur wenig später schloss die Staatsanwaltschaft Dresden ihre »Sachsensumpf«-Ermittlungen ab. Auf einer Pressekonferenz im April 2008 erklärte sie die Korruptions- und Rotlichtvorwürfe aus den Verfassungsschutzakten für haltlos. Im Fall des »Jasmin« sprachen Kohle und Schwürzer ihre beschuldigten Kollegen aus der Justiz von jedem Verdacht frei. Mandy und Beatrix wurden als unglaubwürdig hingestellt. Ihre Aussagen widersprächen sich untereinander und denen anderer Frauen. Die von den beiden »Jasmin«-Opfern belasteten Juristen reagierten mit Strafanzeigen wegen Verleumdung. Kohle und Schwürzer nahmen die Ermittlungen wieder auf. Diesmal gegen Mandy und Beatrix.
Die Widersprüche, die in der mehr als 30-seitigen Anklageschrift aufgelistet werden, sind zahlreich. Auf den ersten Blick wirkt die Argumentation noch schlüssig. Aber nur so lange, bis man die Behauptungen der Staatsanwaltschaft mit dem vergleicht, was Mandy und Beatrix in den Vernehmungen tatsächlich zu Protokoll gaben. Der Unterschied zwischen dem, was die Frauen sagten, und dem, was die Staatsanwälte daraus machten, ist beunruhigend.
Mandy sagte aus, Ingo habe pro Besuch 400 bis 500 D-Mark bezahlt
Drei Beispiele: Wohl um Mandy als unglaubwürdig darzustellen, suggeriert die Anklage, Mandy habe dem Freier Ingo eine Narbe zugeschrieben. Im Vernehmungsprotokoll hingegen liest sich das anders. Mandy: »Dann kann ich mich erinnern, dass einer eben eine Narbe also über dem Schambereich hatte auf der linken Seite …« Staatsanwalt: »Wer hatte diese Narbe?« Mandy: »Das weiß ich eben nicht genau …«
Beispiel zwei: Mandy sagte aus, Ingo habe pro Besuch 400 bis 500 D-Mark bezahlt. Beatrix erinnerte sich an 500. Eine großzügige Bezahlung, verglichen mit den 150 D-Mark der Durchschnittsfreier. Für die Staatsanwaltschaft steht fest: Den spendablen Stammkunden Ingo hat es nicht gegeben, weil im beschlagnahmten Kassenbuch, das ohne die Namen der Freier auskommt, keine Mehrfacheinnahmen über 500 D-Mark notiert sind. Tatsächlich finden sich darin aber wiederholt Einzelbeträge über 400 D-Mark. Summen, die der von Mandy genannten Spanne entsprechen.
Drittes Beispiel: Sowohl Mandy als auch Beatrix konnten sehr detailliert Ingos Brille beschreiben, malten sie sogar auf: tropfenförmige, randlose Gläser, Anfang der neunziger Jahre im Osten ein auffälliges Modell. In der Einstellungsverfügung zu ihren »Jasmin«-Ermittlungen stellen die Staatsanwälte Kohle und Schwürzer fest, der beschuldigte Richter habe damals keine solche Brille getragen. Dem kreuzer liegen allerdings zwei Fotos aus den Jahren 1993 und 1995 vor, auf denen der Jurist jeweils ein Modell trägt, das den Aussagen der Frauen entspricht.
Mandy und Beatrix wollen auch vor Gericht daran festhalten, dass sie wissen, wer ihre Freier waren. Die beiden von ihnen wiedererkannten Juristen, die alles bestreiten, treten als Nebenkläger auf. Einer praktiziert seit seiner Pensionierung als Anwalt, der andere ist befördert worden, nachdem er von allen »Sachsensumpf«-Vorwürfen entlastet wurde – von den Staatsanwälten Kohle und Schwürzer, die seither ebenfalls Karriere gemacht haben. Wolfgang Schwürzer leitet heute die sächsische Anti-Korruptionseinheit INES.