Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau feiert am 28. Juni seinen dreihundertsten Geburtstag. Seine »Bekenntnisse« sind noch heute eine erschütternde Lektüre.
»Wie konnte es geschehen«, fragt der amerikanische Philosoph Will Durant im zehnten Band seiner populären »Story of Civilization«, »dass ein Mann, der, in Armut geboren, seine Mutter bei der Geburt verloren hatte und früh von seinem Vater verlassen wurde, geschlagen mit einem schmerzhaften und demütigenden Leiden [...], verstoßen von Gesellschaft und Kultur, [...], von Ort zu Ort vertrieben als gefährlicher Rebell, des Verbrechens und des Wahnsinns verdächtigt [...] – wie war es möglich, dass dieser Mann nach seinem Tode über Voltaire triumphierte, die Religion neu belebte, die Erziehung umgestaltete, die Moral Frankreichs veredelte [sic!], die romantische Bewegung und die Französische Revolution inspirierte, die Philosophie Kants und Schopenhauers, die Dramen Schillers und die Romane Goethes, die Gedichte von Wordsworth, Byron und Shelley, den Sozialismus Marx’ und die Ethik von Tolstoi beeinflusste und, alles in allem, eine größere Wirkung auf seine Nachwelt ausübte als alle anderen Schriftsteller und Denker des 18. Jahrhunderts, in dem die Schriftsteller einflussreicher waren als je zuvor?«
Natürlich ist das eine rhetorische Frage, die ihre Beantwortung bereits in sich selbst trägt. Doch Durant hat keineswegs übertrieben: Der französisch-schweizerische Naturforscher, Komponist, Philosoph, Pädagoge und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) gehört nicht nur zu den einflussreichsten Denkern der Geistesgeschichte, mit seinen vielfältigen Begabungen und Betätigungsfeldern war er vielleicht das letzte echte Universalgenie. Seine staatstheoretische Schrift »Vom Gesellschaftsvertrag« (»Du Contract Social«) gehört zu den Gründungsurkunden der modernen Demokratie, sein »Émile oder über die Erziehung« ist mit seinen »Sieben pädagogischen Prinzipien« in unserem Bildungswesen noch immer allgegenwärtig; schließlich wäre Goethes Erfolgstitel »Werther« ohne Rousseaus sentimentalen Briefroman »Julie oder Die neue Heloise« überhaupt nicht vorstellbar. Kurz: Ohne Rousseau würden wir heute die Welt nicht so sehen, wie wir sie sehen.
Keine Frage, dieser Rousseau war und ist eine Ausnahmeerscheinung – aber immer auch ein Außenseiter. Um die Wahrheit zu sagen: Rousseau war schon ein sehr schwieriger Patient. Noch genauer: Er war ein fürchterlicher Jammerlappen, eine hypochondrische Nervensäge, ein unausstehlicher Angeber. Mit einem Wort: Monsieur Rousseau war ein rechter Unsympath vor dem Herrn. Aber: Niemand wusste das besser als er selbst, und er hat sich nicht gescheut, sich dazu zu bekennen.
Darum ist seine Autobiografie, »Die Bekenntnisse« (»Les Confessions«), die postum 1782 erschienen ist, um es vorsichtig auszudrücken, auch nicht der reine Lesespaß – und dennoch ein Buch, das man einfach gelesen haben muss. Rousseaus Selbstbeobachtung hat in ihrer minutiösen Unerbittlichkeit geradezu etwas Masochistisches an sich. Seine radikale Ehrlichkeit wirkt noch auf uns heutige Leser, die wir doch einiges gewohnt sind, oft erschütternd und macht die Lektüre der »Bekenntnisse« oft schwer erträglich. Wenn Rousseau zu Anfang verkündet: »Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein«, verspricht er keineswegs zuviel: Niemand, auch nicht der Kirchenvater Augustin, von dem Rousseau den Titel geklaut hat, hat je so über sich geschrieben. Alles kommt auf den Tisch, selbst, was man vielleicht nicht erwarten würde, seine Sexualität. Die Rousseaus »Bekenntnisse« sind ein Vorläufer der Freudschen Psychoanalyse.
Dass dieses Buch uns noch heute zu irritieren, ja zu verstören vermag, liegt sicherlich nicht allein daran, dass wir so viel über Jean-Jacques Rousseaus Seelenleben erfahren – oft mehr als uns lieb ist –, sondern zugleich auch über unser eigenes. »Ich bin ein Prinz, aber auch ein Schuft«, schreibt Rousseau. Und das trifft auf jeden von uns zu. Die Lektüre seiner schonungslosen »Bekenntnisse« zwingt uns zu eigener Selbstanalyse. Die kann unangenehm sein, auf jeden Fall aber ist sie befreiend. Danke dafür, Jean Jacques – und bon anniversaire!