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Theaterkritik

Die Freiheit eines Zirkusmenschen

Fabelhafte Freakshow im Krystallpalast Varieté

  Die Freiheit eines Zirkusmenschen | Fabelhafte Freakshow im Krystallpalast Varieté

Ein Büroangestellter fällt vom Himmel und landet inmitten eines Zirkuszelts voller Freaks: Mit »Mortale« gastiert zeitgenössische, Kleinkunst-Sehgewohnheiten sprengende Zirkuskunst im Krystallpalast Varieté.

Die »letzte Wunderkammer« nannte der Kulturphilosoph Thomas Macho einmal die Freak- oder Side-Shows, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts großer Popularität erfreuten. Das Ausstellen deformierter Menschen und schräge bis eklige Darbietungen bildeten den Kern dieser Schauen, die oft am Rande eines klassischen Zirkus mitreisten, woraus der Alternativname Side-Show resultiert. Seit den 1990ern ist diese Kleinkunstform – dieses Mal emanzipiert, weil von den Akteuren selbst ausgehend – reaktiviert worden, sind Side-Shows feste Bestandteile von Tattoo-Messen, Straßentheater-Treffen und Musik-Festivals. Ein hochkarätiges Stück zeitgenössischer Zirkuskunst, die mit einem guten Schluck Side-Show versetzt wurde, ist nun im Krystallpalast Varieté zu erleben.

Als Zirkusmärchen wird die schwedische Show – bis auf eine deutsche Artistin stammen alle aus dem hohen Norden – betitelt, und da ist was dran. Zauberhaft und poetisch ist der Rahmen für die zum Teil schön skurrilen Einlagen. Ein Büroangestellter fällt vom Himmel und landet inmitten eines Zirkuszelts. Die fahrenden Leute betrachten den fliegenden Fremden zunächst argwöhnisch, doch mit seinen Kunststücken kann er das geschulte Auge der Artisten beeindrucken und verwandelt sich selbst zur freakigen Zirkuskreatur und zum neuen Mitglied der Truppe. So wie er sich vom gestriegelten Anzugträger zum die Freiheit eines Zirkusmenschen kostenden Individuums verwandelt, steigert sich die Dramaturgie des Abends in ihrer hypnotischen Wirkung. Der sich solcherart aufbauende Sog spaltet das Publikum, begeistert die einen, lässt die anderen mit einem Achselzucken oder »Igitt« zurück. Auch das ist eine typische Side-Show-Eigenschaft.

Dabei sind die vom psychedelischen Sound-Setting des Komponisten Henrik Ekkberg eingerahmten Darbietungen keine plumpe Patrouille hinter den Grenzen des guten Geschmacks (was auch immer das sein soll). Sie fallen nur nicht so clean und gewohnt aus wie die – hierdurch soll sie nicht abgewertet werden – Varieté-Artistik, die man häufiger zu Gesicht bekommt. Da fliegen Gewichte durch die Luft, findet ein Pömpel als Kopfbedeckung zum Einsatz und besorgen Milchschäumer den Trommelwirbel. Eine trunkene Flaschenbalance gerät nicht aus dem Gleichgewicht und eine Löwennummer kommt echt aus den Puschen. Einmal wird eine Kette erst zur doppelten Schaukel, dann zum Vertikalseil und bei einer sensationellen Seiltanznummer wechseln sich Spagat und Sprünge auf dem flexiblen Drahtstück ab. Ohne Zwischenmoderationen, nur durch Musik und Minenspiel wird die Brücke zwischen den einzelnen Akten geschlagen. Scheinbar mühelos fügen sie sich zur kleinen Geschichte, in der auch die vielleicht gewöhnungsbedürftigeren Darbietungen wie das Rasierklingen-Verspeisen inhaltlich nachvollziehbar einbetten. Und wenn zwei frisch Verliebte ihre Gefühle für einander durch eine Mund-zu-Mund-Jonglage von Tischtennisbällen zum Ausdruck bringt, mag man das schräg nennen, romantisch ist es auch. Ihr körpervereinigendes Liebesspiel als eher klassische und grandiose Trapeznummer über den Köpfen des Publikums fällt da im Symbolgehalt nicht weniger drastisch aus, mag aber als finaler Akt manche zuvor verstörte Sehgewohnheit wieder versöhnen.


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