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Jenseits des sterbenden »Frühlings«

Carlo in Cairo: Eindrücke aus Ägypten

  Jenseits des sterbenden »Frühlings« | Carlo in Cairo: Eindrücke aus Ägypten

Carlo Bergmann ist nach seinen Schilderungen der friedlichen Proteste auf dem Tahir-Platz in Kairo vor zwei Wochen in die südwestlich der Hauptstadt gelegene Oase Bahariya gereist. Die Revolution ist hier nicht präsent, oder, wie Carlo sagt: »Das Dörfliche, dass sich auch in den ärmlichen Stadtteilen Kairos breitmacht (Bulaq, Imbaba etc), ist nach wie vor die dominierende Lebenserfahrung der Ägypter. So wundert es nicht, dass in Siwa bei der letzten Wahl nur 9 Leute für Shafiq und alle anderen fuer Mursi gestimmt haben. Auf dem Land sind die meisten für die Muslimbrüder und für den Verfassungsentwurf.«

Ab in die Oasen der Westwüste Ägyptens. Ab zu den Kamelen. Kairo liegt hinter mir. Doch Sand und Geröll sind nicht in Sicht, nirgendwo Weite wie noch vor 30 Jahren. Heute verstellt der Siedlungsmoloch von 6th October City, eine von fünf Kairoer Trabantenstädten, die Pyramiden. In diesem Häusermeer leben etwa zwei Millionen Menschen. Um 1980 hatte es ganz harmlos angefangen. Ein paar irrlichternde Laternenpfähle verbreiteten gleißend gelbes Licht entlang zusammengeschobener Pisten. Den Ägyptern schien der Asphalt ausgegangen zu sein. »Null Chance. Fehlinvestition«, murmelte ich in den Wind und glaubte an die Gestaltkraft meines Spruches – oben von der gekappten Spitze der Cheopspyramide aus. Größenwahn einst und jetzt. Letztendlich setzt er sich durch.

An Müllhalden vorbei. Am Straßenrand türmt sich kilometerlang abgekippter Bauschutt. »Streng verboten«, sagt der Fahrer und wirft die Plastiktüte mit den Frühstücksresten aus dem Fenster. Müll zu Müll. Folge des grenzenlosen Wachstums. Ökonomen erfreuen sich immer wieder daran.

Dann endlich – die Wüste! Der dichte Verkehr der Versorgungslaster verkrümelt sich peu à peu. Der Asphalt folgt dem Gleisdamm der Eisenerzbahn. Da und dort ein von der Strecke gefallener Waggon. »Die sind besser geworden«, sage ich zum Fahrer. »Früher lag auch eine Diesellok wie erschlagen auf der Seite. Deutsches Fabrikat.« Der Fahrer pflichtet mir bei (die Loblieder auf deutsche Produkte sind seltener geworden). »Seit die Strecke mit Tropenholzschwellen erneuert worden ist, klappt’s besser. Gutes Material. Aus Brasilien«, meint er. Ich klappe meine Lehne nach hinten, nicke ein und träume von der Wüste.

Bahariya

In Bawiti, dem Hauptort der Bahariya-Oase, blicke ich in die Augen von Nauko Uno. Sie ist aus Japan und lebt seit einem Jahr hier. Sie hat ein Diplom in International Development und hatte im fernen Kobe einen Bewerbungsbogen ausgefüllt, »Bahariya« angekreuzt und will jetzt den Leuten Sauberkeit beibringen.

»Klappt’s?«, frage ich. »Noch nicht«. Nauko verkauft von den Oasenfrauen hergestellten Kunstkram, den keiner der Einheimischen gebrauchen kann, an Touristen. Die haben dann ein gutes Gefühl. Als hätten sie etwas bewirkt – zur Verbesserung der Welt? Der Profit soll in Ortsverschönerungsmaßnahmen gesteckt werden. Irgendwann einmal also der Erfolg durch »Hilfe zur Selbsthilfe«. Hoffentlich ist dann noch Platz in unseren Heimen: für weiteren Nippes.

Muhamed

Bei meinen Leuten ist die Wende geschafft. Vor 27 Jahren hatte ich angefangen, Muhamed Abd el Hamid Achmed Ranem und seiner Familie für die Betreuung meiner Kamele während meiner Abwesenheit Geld zu zahlen. Muhamed war 15 Jahre alt, als sich unsere Wege kreuzten. Er saß auf einem Esel, war aus dem Nichts aufgetaucht und sagte: »Du bist eingeladen. Komm zu meinem Haus.« Ich war mit den Kamelen von Luxor kommend gerade den Steilabfall am Ostrand der Oasensenke von Kharga abgestiegen und stand mit den Tieren irgendwo im staubigen Weidegestrüpp am Rande eines trockengefallenen Tiefbrunnens. Keine Spur von Muhameds Haus. »Ist im Westen, du wirst es finden«, sagte er und verschwand. Einen halben Tag später gelangte ich hin. Man gab den Tieren Futter. Muhameds Vater schlachtete eine Ziege und gewährte die üblichen drei Tage Gastfreundschaft. Unsere Freundschaft währt bis heute, sie ist durch materiellen Austausch unterlegt.

Bei meinen Tieren!

Muhamed hat eine schöne Weide am Ostrand der Dakhla-Oase ausgesucht. In der Nähe von Tineida. 200 Fladenbrote liegen als Begrüßungsgabe bereit. Nicht für mich, sondern für die Tiere. Die freuen sich. Amur, Ashan, Rashid, Fatima, Taiba, Mabruka, Arabella, Sahara und Karima erkennen mich (oder das Brot?) wieder und lassen sich kaum von den Fladen fortreißen.

Überall Scherben

An den Felsen ringsum sind Ritzzeichnungen angebracht. Aus der Periode vom Neolithikum bis zur islamischen Zeit. Mich fesseln vor allem zwei Schiffsdarstellungen, ungefähr 4.400 bis 6.000 Jahre alt. Muhamed hebt einen Stein auf. Er ist verziert! Mit dem ägyptischen Wüstengott Seth auf der einen und einem Skarabäus auf der anderen Seite.

Während wir staunen, kocht Achmed (Muhameds älterer Bruder, der sieben Ehen hinter sich hat) Spaghetti. Zum Mittagessen erscheinen drei meiner Kamele. Keiner hat sie eingeladen. Sie wollen partout auf meinen Platz.

CARLO BERGMANN


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