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Was vom Tahir übrig bleibt

Carlo in Cairo: Eindrücke aus Ägypten

  Was vom Tahir übrig bleibt | Carlo in Cairo: Eindrücke aus Ägypten

Am Sonntag verlässt Carlo für dieses Jahr Ägypten. Eine letzte atmosphärische Analyse der Zukunft der ägyptischen Opposition nach der (vermutlich) erfolgreich für die Regierung und Mursi verlaufenen Abstimmung über die neue, islamisch geprägte Verfassung des Landes. Eine nüchterne Schilderung über eine steckengebliebene Revolution.

Das schwarze Loch

Heute  ist der 21.12. Um 7 Uhr fiel der Strom in meinem Zimmer aus. Erstes Anzeichen des nahen Endes der Welt? Auf der gesamten Etage kein Licht. Was, wenn sich dieser Trend fortsetzt? Wenn er das ganze Hotel erfasst, schliesslich Kairo und dann den ganzen Globus? Jedenfalls war mein Zimmer für eine kurze Zeit ein schwarzes Loch.

Morgen findet der zweite Teil des Verfassungsreferendums statt. Wird dann die demokratische Oppositionsfront in ihr schwarzes Loch fallen? Eigentlich ist das schon passiert. Vor 3 Tagen (18.12) hatte die Opposition zum grossen Aufmarsch geblasen. Eine Million Demonstranten sollten Mursi und die Seinen in die Schranken weisen. Es kamen ca. 1.500 Leute (auf den Midan Tahir). Viele waren sowieso schon da, weil sie in Dauerprotest (Zeltdorf) auf dem Platz verharren. Es war unklug, eine Zahl zu nennen. Das augenscheinliche Verfehlen der propagierten Teilnehmerzahl zeigt überdeutlich die Marginalisierung der Opposition. Irgendwann nach dem nächsten Wahlgang wird die Regierung, die das Referendum gewinnen wird, die uneinsichtigen Demonstranten vom Platz drängen und den  dann noch störrischen Teil der Bewegung kriminalisieren.

Vor dem Hintergrund, dass die neuen Mächtigen ihre Macht noch nicht konsolidieren konnten, haben Mursi und seine Leute bisher eine gute Partie geliefert. Den Demonstranten fehlt der Feindkontakt, man lässt sie gewähren. Und so demonstrieren sie sich mehr und mehr ins Abseits – falls die Regierung keine Fehler macht, bei ihrer Strategie bleibt und jede Provokation vermeidet.

Für viele ein Fortschritt

In den Oasen hatte ich Leute gefragt, was sie von Mursi halten. Sie sind für ihn, wollen, dass er eine Chance bekommt und  das Land vorwärts bringt. Was konkret gegenüber der  Mubarrak-Ära besser geworden sei? Die endlosen, akribischen Kontrollen und die angsteinflössende  Allgegenwärtigkeit der diversen Geheimdienste seien entfallen, man könne endlich frei atmen. So die Antworten. Und weiter: Dass die Staatsdiener sich nicht mehr so aufblasen. Für jeden kleinen Fehler (?) seien sie zur Rechenschaft gezogen worden – mit oft jahrelangem Nachspiel. Sie hätten dem ein Ende bereitet, in dem sie z.B. in Dakhla einen Großteil der Polizeistationen niedergebrannt und dann abgerissen hätten. An ihrer Stelle hätten sie Blumenbeete angelegt. Polizisten, die es zu dreist getrieben hätten, wären verprügelt und weggejagt worden. Müllabfuhr und andere kommunale Dienste hätten die Bewohner von Dakhla in die eigenen Haende genommen (die Oase ist blitzsauber).

Und auch eine neue Mode ist zu beobachten: Selbst die Ängstlichen und Zurückhaltenden lassen sich vermehrt mit Vollbärten auf den Straßen blicken. Sie sind für die Muslimbrüder und wollen, dass das Demonstrieren aufhört. Zwei Jahre seien genug.

Der unfertige Sisyphos

Unter den Demonstranten auf dem Midan Tahir gehört  ein großer Teil zum Fanklub des Kairoer Fussballklubs ALI – ein proletarischer Verein mit großer Widerstandserfahrung. Mit dem Führer des »Battalion of the Black Fist« habe ich gesprochen. Sein Zelt steht neben einer Gipsstatue, die einen muskulösen Typen zeigt, der sich aus eigener Kraft aus dem ihn einschließenden Felsgestein herausgemeißelt (und geformt) hat – aber eben nicht ganz. Noch steckt er von der Hüfte abwärts im Gestein. So wie er ist der Protest steckengeblieben.
Der Unterleib ist ab der Hüfte die ungeschriebene Grenze, an der sich die Revolution reibt. Auch wenn jetzt wieder auf dem Platz demonstriert, getrommelt und skandiert wird und die Rufe nach Freiheit nicht abebben wollen. Die Plastik des  steckengebliebenen Sisphos ist ein starkes Sinnbild für die gegenwärtige Situation – mit durchaus  prophetischem Zug. Die Vorstellungen der Opposition werden spätestens, wenn es um die Stellung der Frau geht,  Illusion bleiben.
Die »Ultras« von ALI haben 16 Tote zu beklagen. Um sich gegen Übergriffe zu schützen, haben sie sich bewaffnet. Sie sinnen auf Rache. Doch der geringe Mobilisierungsgrad der Demonstranten wird sie zu Außenseitern stempeln. Der Feind zeigt sich nicht. Und die Mehrheit der konservativen Landbevölkerung hat andere Vorstellungen von der Ordnung des Staates und der Gesellschaft und von der Beziehung zwischen den Geschlechtern.
CARLO BERGMANN


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