Auch wenn man seit 30 Jahren im Osten lebt, hat man keine Ahnung, was hier los war. Weil es kaum thematisiert wird, wenn man nicht »Opa erzählt vom Krieg« spielt oder die SuperIllu liest.
Ich weiß genau, wann Benno Ohnesorg erschossen wurde: 2. Juni 1967. Ich kenne dieses Datum auswendig, weil ich es schon so oft gehört und gelesen habe. In Dokumentarfilmen oder in Feuilleton-Artikeln. Ich weiß ziemlich gut Bescheid über die 68er-Studentenbewegung, über die RAF, über Minister in Turnschuhen. Ich kenne die Texte von NDW-Hits auswendig, die von Rio Reiser sowieso. Ich habe das Foto von Willy Brandts Kniefall gefühlte tausendmal gesehen, ich habe Helmut Schmidts Meinung zu irgendwas so oft gelesen, dass ich schon überlege, Die Zeit abzubestellen. Wenn ich mich konzentriere, kann ich alle Bundeskanzler seit Adenauer aufzählen. Ich wurde seltsam nostalgisch, als ich David Bowies Video zu »Where are we now« sah, dabei war ich 1977 noch lange nicht geboren, geschweige denn nightclubbing unterwegs. Als Teenagerin habe ich Christiane F.s »Kinder vom Bahnhof Zoo« verschlungen. Die BRD ist mir kein Rätsel, sie ist ein offenes, schon sehr oft durchgeblättertes Buch für mich.
Kling Klang im Wiener Walzer-Schritt
Ich kenne hingegen keinen Namen eines Mauertoten. Ich weiß, dass Wolf Biermann ausgebürgert wurde, seine Lieder kenne ich nicht. Um alle Staatsoberhäupter der DDR aufzuzählen, bräuchte ich wohl eher ein Smartphone als ein bisschen Konzentration. Ich habe kaum einen DEFA-Film gesehen und kann mich nicht erinnern, dass überhaupt einer in diversen »Die besten Filme der letzten Jahre«-Reihen vorkam. Ich singe Keimzeits »Kling Klang« zwar laut mit, wenn ich betrunken bin, aber wenn ich verkatert bin, höre ich Element Of Crime. Ich kenne das Bild, wie Honecker einen Russen küsst. Aber wie hieß der gleich? Und was haben die Leute im Osten eigentlich in den 70ern gemacht – außer sich gegenseitig abgehört und verpetzt, außer für Bananen angestanden, außer nackt zu baden, wie es die wenigen Geschichten, die erzählt werden, gerne wiederholen?
In Einheit gegen Bonzenkinder
Laut Geburtsurkunde bin ich ein Ossi, geboren in der Charité, aufgewachsen in Friedrichshain. Ich bin ein Zwitter der deutsch-deutschen Identität. Ich war sechs, als die Mauer fiel, ich hatte keine Ahnung, erinnere mich an die neue Faszination für Überraschungseier, Doppelstockbusse und »Bibi Blocksberg«-Kassetten. Und ja, mir wurde plötzlich klar, dass es bei uns viel grauer war als »drüben«. Mit zehn wechselte ich die Schule. Auf ein Gymnasium in Westberlin, hauptsächlich deshalb, weil es mit der fünften statt der siebten Klasse anfing. Eine sogenannte Eliteschule, deren guter Ruf erst mit den Missbrauchsskandalen vor einigen Jahren ins Wanken kam. Damals wurden Mitschüler von ihrem Chauffeur zur Schule gebracht. An den wenigen Tagen, an denen ich nicht mit der U-Bahn einmal durch die halbe Stadt fuhr, brachte mich meine Mama mit dem Trabi hin (was sehr unangenehm sein kann, wenn der coole Typ aus der Nachbarklasse gerade vorbeigeht und fett grinst). An Kindergeburtstagen bei mir zu Hause mochten die anderen nicht die Tomatensauce, die aufgetischt wurde, weil sie keinen Tropfen Tomatenmark enthielt. Andere durften erst gar nicht kommen, weil Friedrichshain für einen Zehlendorfer Jungen zu gefährlich schien. Es gab fünf Ossis in meiner Klasse mit 30 Schülern. Wir waren anders, das kann man jetzt noch auf den Klassenfotos erkennen, doch das erübrigte sich bald, wir wurden uns immer ähnlicher. Hörten erst Boygroups, dann Punk, dann Britpop. Meine neuen Freunde aus Reinickendorf fanden die Chauffeurskinder auch doof, so was schweißt zusammen.
Heute bin ich dreißig Jahre alt, habe nach Ostberlin in Prag, Frankfurt/Oder und nun seit über sechs Jahren in Leipzig gewohnt. Nie im Westen. Und doch ist mir die alte Bundesrepublik so viel vertrauter als die alte DDR. Ich bin weit entfernt von jeder Ostalgie. Die DDR war ein Unterdrückungsstaat, davon erzählen viele Biografien – sowohl in meinem allernächsten privaten Umfeld als auch öffentlich in Filmen, Büchern, Reportagen über die Stasi, über den Verrat innerhalb von Familien, über das Gefangensein. Das ist wichtig. Auch ich frage mich sofort insgeheim bei studierten DDR-Bürgern, wie regimetreu sie dafür gewesen sein mussten. Auch ich werde wohl nie Die Linke wählen können, solange da noch ehemalige SED-Genossen sitzen. Auch ich werde nie im Leben DDR-Fanartikel kaufen, auch und schon gar nicht ironisch.
Postbote kennt die Süddeutsche nicht
Und doch stellt sich die Frage: Sind die Erinnerungen der 16 Millionen genauso untergegangen wie der Staat, in dem sie aufgewachsen sind? Wieso feiern auch die Ostdeutschen 60 Jahre Bundesrepublik und Grundgesetz? Wieso sitzen in den Redaktionen seit 1990 nur noch Westdeutsche, die über Günter Grass schwadronieren, aber kaum über Christa Wolf oder Christoph Hein? Wieso muss erst die Bundeskanzlerin »Paul und Paula« zu ihrem Lieblingsfilm erklären, bevor er überhaupt in den Feuilletons eine Rolle spielt, statt Schlöndorff, Fassbinder etc.? Wieso ist die Frage nach Merkels Vergangenheit auf der Titelseite der Zeit im Osten, auf der bundesweiten Ausgabe aber Esoterik das Titelthema?
Apropos: Löblich, dass es Die Zeit inzwischen auch als Ost-Ausgabe gibt. Doch liegt dahinter ein bezeichnendes Problem: Unser Postbote steckt uns manchmal statt der SZ versehentlich die FAZ in den Briefkasten, weil er beide nicht kennt, wie er selbst einmal erklärte. Denn hier abonniert kaum einer die überregionalen großen Zeitungen der alten Republik, was daran liegen könnte, dass sie die neuen Bundesländer hauptsächlich in Artikeln über Neonazis oder Hartz IV thematisieren. Dann doch lieber die SuperIllu oder MDR. Die von hier. Aber Berichte über die Befindlichkeiten von Achim Menzel, Kati Witt und Manfred Krug können es ja nun nicht gewesen sein.
Spaß im Scheißland
Ein riesiger Erfolg in meinem Freundeskreis war damals »Sonnenallee«. Nicht wegen der nicht unbedingt überragenden Qualität des Filmes, sondern vielmehr, weil dort endlich mal coole Jugendliche aus der DDR zu sehen waren. Die wilde Partys feierten, die Drogen nahmen, die grandios tanzten. Aber die die gleichen Telefonapparate und die gleichen hässlichen Tapeten hatten, wie ich sie noch allzu gut kannte, die auf dem gleichen Klettergerüst rumhingen, das auch bei uns auf dem Spielplatz stand, die auch in einem Scheißland Spaß hatten. Kurzzeitig war es sogar ein bisschen cool, aus dem Osten zu sein. So wie später, als alle nach Friedrichshain zogen, und ich stolz erzählte, dass ich hier jeden Hinterhof kenne, dass wir hier vor Jahren in den unsanierten, leeren Wohnungen heimlich unser Bandenquartier eingerichtet hatten.
Letztens zeigte ich einem Ostberliner Freund die ersten Anzeichen des Citytunnels. »Unser Stuttgart 21, unsere Elbphilharmonie«, erklärte ich. Er hatte eine Theorie, warum sich Leipziger über die verschlungenen Millionen und Terminverschiebungen weniger aufregten als Schwaben: »Ossis haben halt schon so oft erlebt, dass irgendwo angefangen wurde, was zu bauen ohne irgendein Ergebnis, dass Geld irgendwo verschwunden ist, dass Dinge nicht vollendet wurden und dass es trotzdem immer weiter geht.«
Gleiche Schrankwand macht kein Wir
Und schon bin ich versucht, von »uns Ossis« zu sprechen, die wir ja alle so gelassen sind, und die Wir-Form zu benutzen, die mich an Büchern wie »Zonenkinder« so nervt. Weil es dieses Wir nicht gab. Weil einen die gleiche Schrankwand und die Schlange vor einer Kaufhalle noch nicht zu einer eingeschworenen Gemeinschaft macht. Auch nicht in der dritten Generation Ost, wie ein anderer Beitrag schon detailliert erklärt hat.
Doch ich habe immer noch Tränen in den Augen, wenn ich Bilder von der Maueröffnung sehe. Meine beste Freundin aus Köln auch. Da sind wir beide dann das Wir. Aber es ist vor allem ihr Wir. Denn wir wissen nicht genauso viel aus beiden Welten, die sich da in den Armen lagen. Von der einen kennen wir hauptsächlich den sächselnden Dialekt, der sie immer noch schmunzeln lässt.
Nach mehr Informationen müssen wir direkt suchen, ältere Menschen (man müsste sie logischerweise wohl erste oder zweite Generation Ostdeutschland nennen) befragen, sogenannte Wenderomane lesen, die ja, um hier nicht nur kulturpessimistisch daherzuschreiben, eine gewisse Präsenz durchaus erreicht haben.
Kiwis waren Schnaps
Doch ich wünschte, wir würden über Günter Litfin genauso viel wissen wie über Benno Ohnesorg. Und über das Land, aus dem er floh bzw. fliehen wollte. Einfach, weil sie es im Fernsehen zeigen, weil es in den Zeitungen steht, weil es zur deutschen Geschichte gehört. Zum Beispiel, dass Punk hier nicht NO, sondern Too Much Future war, weil es für jeden einen vorgezeigten Lebensweg gab, gegen den man sich mit Klebstoff in den Haaren auflehnte. Dass man Kirsch-Whiskey Kiwi abkürzte. Dass es junge Leute gab, die sich als Zeichen der Systemkritik taufen ließen, weil Christen per se gegen den Staat waren (vgl. das Interview mit Schwarwel in kreuzer 05/2012). Dass es nur hier Bausoldaten gab und keinen Zivildienst. Und nicht nur, dass es der damalige Staatschef der Sowjetunion, Leonid Iljitsch Breschnew, war, der seinen sozialistischen Bruder Honecker küsste.
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Texten, in denen sich kreuzer-Autoren – angeregt vom Buch »Dritte Generation Ost« – auf Spurensuche nach einem Label für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jungen Vorwendegeneration begeben. In vorherigen Texten wollte Tobias Prüwer den »Konsens kaputt kloppen« und Franziska Reif erinnerte sich an »Malven in der Flugasche«.