Der Leipziger Bernd Adamek-Schyma hat die vergangenen Tage in Istanbul verbracht. Was er dort im Gezipark und auf dem Taksimplatz erlebte, hat er mit Kamera und in kurzen Anekdoten festgehalten.
Ein Zeugnis von Protest und Polizeieinsatz, von Festivalatmosphäre und Tränengas, von Bäumen und brennenden Baggern.
Die Bilder enstanden zwischen dem 3. und 6. Juni 2013, der Autor ist inzwischen wieder sicher in Leipzig gelandet.
»Ihr kommt entweder zum allerbesten oder zum allerschlechtesten aller möglichen Zeitpunkte – das müsst ihr selbst entscheiden.« So begrüßt uns Pelin nach unserer Ankunft in Istanbul. Letzte Woche Montag schwammen wir in der Nacht am Taksim Platz und den ihn umgebenden Straßen Beyoglus in einer Menge aus tausenden Menschen. Die Leute sind angespannt, aber sie feiern auch ihren ersten Teilsieg. Die Polizei hat sich seit zwei Tagen nicht mehr in Uniform auf dem Platz blicken lassen – und schießt auch keine Tränengaspatronen mehr gezielt auf die Köpfe der Menschen.
Wir kamen nach Istanbul, um unsere Freundin Pelin zu besuchen. Pelin gehört zu den vielen Frauen in Istanbul, die versuchen, in der Stadt als freiberufliche Kreative zu überleben. Das ist einerseits nicht so einfach wie in Leipzig, denn ein Großteil ihrer Honorare als Kuratorin geht für die Miete ihres Einzimmerapartment im hippen Cihangir drauf. Andererseits profitiert sie vom unfassbaren wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei und dem Istanbul-Hype der letzten Jahre. Sie berät und unterrichtet einen ultra-reichen türkischen Geschäftsmann, der dabei ist, eine Sammlung zeitgenössischer Kunst aufzubauen. Die Proteste profitieren natürlich vom kreativen Potential der Stadt.
Montagabend lädt uns Pelin nicht in ihr Apartment ein. Sie fragt ständig über Handy bei ihren Bekannten nach, wie die Situation direkt am Taksim sei, und ob es sicher sei, mit ihren Gästen aus Leipzig dorthin zu laufen. Hundert Meter bevor wir die Mitte des riesigen Taksimplatzes erreichen, ruft ihr Freund an. Ali sitzt in Bodrum und verfolgt im Netz, was in Istanbul läuft. Er warnt uns vor Tränengasattacken der Polizei in Besiktas, unweit des Taksimplatzes. Wir beschließen, zu bleiben, wo wir sind.
Auf dem Taksimplatz mit dem besetzten Atatürk Kulturzentrum herrschte bis zur Räumung eine unglaublich positive, friedliche, festivalartige Atmosphäre gemischt mit ernsthaft-gespannter Geschäftigkeit. Ein paar ausgebrannte Autowracks und Barrikaden sind stumme Zeugen der Polizeiangriffe der letzten Woche.
Als wir durch die frisch gentrifizierten Straßen Karaköys in Richtung Taksimplatz laufen, macht uns Pelin auf die vielen geschlossenen Restaurants aufmerksam. Nur ab und zu huschen Katzen über die verlassenen Straßen. »Normalerweise bekommst Du hier ohne Reservierung keinen Tisch. Überall und vor jedem Cafe sitzen Leute. Heute sind alle entweder zu Hause oder aber am Taksimplatz.« Oder im Gezipark, wo zumindest bis zur Räumung des Taksims diese Woche jedes Fleckchen nicht asphaltierter Erde mit Zelten oder Isomatten bedeckt war.
Ein Kollege bezeichnete Karten und anderes Arbeitsgerät von Geographen einmal als »Rüstzeug«. Für ihn ging ich also mit meinem Rüstzeug nach Istanbul. Denn ich wollte mir dort auch einige der massiven neoliberalen Eingriffe in die Stadt vor Ort ansehen. Heute weiß ich, dass das Rüstzeug für Armchair-Geographen an deutschen Unis vielleicht aus Karten, Texten oder Bildern besteht. Für die Aktivisten im Gezi Park aber sieht überlebenswichtiges Rüstzeug etwas anders aus: Gasmaske, Brille. Vor allem: Helm. Die Polizei schoss in mehreren Fällen Tränengaspatronen gezielt auf die Köpfe der Demonstranten. Gestern wurde Evren Köse schwer am Kopf getroffen und erlitt einen Schädelbasisbruch. Die 34-jährige Berlinerin Lobna Al Lamii wurde am 31. Mai von einer Gasbombe am Kopf getroffen. Heute lag sie noch immer im Koma.
Wünsch Dir was. Kurz nach dem Abzug der Polizei errichteten die Demonstranten diesen Wunschbaum vor der Baustelle am Gezi Park. Hier entzündeten sich die landesweiten Proteste gegen die autokratische Erdogan-Regierung. Ein Bündnis aus Umweltschutz-, Gender- und Nachbarschaftsaktivisten hatte sich seit dem 27. Mai erfolgreich gegen den Abriss des Parks und seiner Bäume zur Wehr gesetzt.
Onur ist 22 Jahre alt. Er arbeitet in Istanbul für Greenpeace und bezeichnet sich auch als Menschen- und Gay-lesbian-transgender-rights-Aktivist. Er war einer der Ersten vor Ort und schilderte für mich aus seiner Sicht, was seit dem 27. Mai im Gezi Park passiert war: »Ich kam hierher, um Bäume zu schützen, denn einige dieser Bäume sind über fünfzig Jahre alt und laut türkischer Rechtssprechung dürfen Bäume, die älter als fünfzig Jahre alt sind, nicht gefällt werden. Aber dann wurde ich mit großer Polizeigewalt konfrontiert, gleich zu Beginn ...«
»... Zu Beginn waren wir hier um die dreißig Leute. Die Polizei bewachte die Maschinen, mit denen die Bäume gefällt werden sollten. Wir waren sehr aufgebracht und verärgert, aber wir konnten nichts tun, weil wir zu wenig waren. Als sich aber der Parlamentsabgeordnete Sırrı Süreyya Önder von der Kurdischen Partei BDP vor die Maschinen warf, stoppten sie die Abrissarbeiten ...«
»... Morgens um fünf Uhr kam die Polizei, setzte Tränengas ein und verbrannte die Zelte und unsere persönlichen Sachen. Sie ging dabei sehr brutal vor. Einer meiner Freunde wurde am Hoden verletzt und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Anti-Atomkraftaktivisten wurden ohne Grund verhaftet, weil sie Bilder gemacht hatten.«
Die Gemeinsamkeiten des aus den unterschiedlichsten Organisationen und Individuen bestehenden Solidaritätsbündnisses fasst Onur so zusammen: »Das Gemeinsame sind die sehr klaren Forderungen, darin sind sich viele der Organisationen einig: Der Park soll so bleiben, wie er ist. Das Atatürk Kulturzentrum soll nicht abgerissen werden. Der Bürgermeister von Istanbul und die Polizeichefs von Istanbul und Ankara sollen zurücktreten. Die Regierung muss anfangen, etwas gegen die Medienzensur zu unternehmen, und alle inhaftierten Demonstranten sollen freigelassen werden. Bis diese Forderungen erfüllt sind, wird niemand hier mit den Protesten aufhören. Jetzt liegt es bei der Regierung, eine Entscheidung zu treffen.«
Am Donnerstag letzter Woche fotografierte ich ihn als irgendwie stolze Landmarke des Widerstandes, der sich zu Beginn nur gegen die Zerstörung einer der letzten wenigen Grünflächen im Innenstadtbereich am Rande des Gezi Parks richtete. Gestern Abend dann sah ich diesen Bagger wieder, live auf CNN. Lichterloh in Brand.
1916 wollte der osmanophile Wilhelm II. seinem Freund Mehmet V. ein Geschenk machen. Er schickte ein Portrait von sich in Öl nach Istanbul. Das Kaiserbild kam jedoch nie beim Sultan an – der durch die Kriegswirren verzögerte Bahntransport über den Balkan machte den beiden Freunden einen Strich durch ihre vielen gemeinsamen Rechnungen. Deshalb befindet sich das Bild auch heute noch im Gebäude der ehemaligen Botschaft. Von dessen Fenstern aus sahen Konsulin Jutta Wolke und ihre Mitarbeiter vergangene Woche, wie die Menschen eilig Pflastersteine und Bauzäune zu Barrikaden anhäuften, um sich vor den Tränengas- und Wasserwerferattacken der Polizei zu schützen. Das Deutsche Generalkonsulat liegt in unmittelbarer Nähe zum Taksimplatz.
An einem ganz normalen Geschäftstag denken viele der Besucher der schicken Geschäfte und Galerien auf der sich kilometerweit vom Galataturm zum Taksim ziehenden Geschäftsmeile Istiklal bestimmt auch mal an Mark Ravenhills Drama »Shoppen und Ficken«. Auch in diesen Tagen sind die meisten der Geschäfte geöffnet – allerdings gespenstisch leer. Denn zumindest bis kurz vor der Räumung war der direkt an den Taksim angrenzende nördliche Teil der Istiklal für die Istanbuler als erweitertes Feld nicht zum Shoppen, sondern zum Bekundung von Solidarität interessant. Mit Hilfe eher klassischer Demonstrations- und Protestformen, durch demonstrativ öffentliches Biertrinken auf den Treppen des Institut Francais oder wie hier durch andere Formen der öffentlichen Meinungsbekundung.
»Ich tweete und ich respektiere, ich liebe und ich plündere« – Das Bündnis der Demonstranten ist breit gefächert. Neben Umwelt- und Genderaktivisten, Oppositionsparteien oder den Fanclubs der drei Fußballmannschaften Galatasaray, Fenerbace und Besiktas outeten sich hunderte Dozenten der Istanbuler Uni als »Dr. Marginally Significant«, »Dr. Alkoholiker« oder »Dr. Joe Plünderer« – als Reaktion auf die wüsten Beschimpfungen Recep Tayyip Erdogans, die Demonstranten seien nichts als »eine marginale Bande von Lumpen, Plünderern und Extremisten«.
»Der GAZi Ayran ist ein gesundes Erfrischungsgetränk, hergestellt aus Joghurt, Wasser und Salz. Er passt nicht nur zu Gegrilltem und Kebap-Gerichten, sondern schmeckt auch für zwischendurch, da er lecker und gesund ist. Im Tetra-Pak ist er der ideale Begleiter für unterwegs. Er enthält keine Farb- und Aromastoffe.« Die Sprayer meinten mit dem Hinweis an dieser Instanbuler Häuserwand auf das in Stuttgart hergestellte Joghurtgetränk wohl eine etwas bitterere GAZ(i) Variante. »Gibts das auch mit Erdbeergeschmack?« fragten die Demonstranten an einer anderen Wand als sarkastische Antwort auf das seltsame »Orangengas«, welches die Polizei einsetzte.