Gestern Abend ist der 87-jährige schwerkranke Schriftsteller und Ehrenbürger der Stadt Leipzig aus einem Fenster im zweiten Stock eines Gebäudes der Universitätsklinik gestürzt. Vermutlich hat Erich Loest Selbstmord begangen.
Nein, Erich Loest war kein kommoder Zeitgenosse, und er hat sich nie den Mund verbieten lassen. 1957 hat ihm das siebeneinhalb Jahre Bautzen eingebracht. 1981 hat er die DDR verlassen und ist in die Bundesrepublik gegangen. Seit 1989 lebte er wieder in seiner Wahlheimat Leipzig. Bis zuletzt hat sich Loest immer wieder und lautstark zum politischen und kulturellen Geschehen in seiner Stadt zu Wort gemeldet. Zimperlich ging er dabei eher nicht zu Werke. Um die Wahrheit zu sagen: Loest hat oft genervt und sich damit in Leipzig nicht nur Freunde gemacht. Aber das beweist bloß, wie wichtig, eigentlich unentbehrlich er für diese Stadt gewesen ist.
Doch das wird in all den Nachrufen ausgiebig genug zur Sprache kommen. Darum nehmen wir an dieser Stelle seinen Tod lieber zum Anlass, noch einmal auf sein Werk zu schauen. Denn Loest war nicht nur ein höchst streitbarer Intellektueller, er war auch ein unerhört fleißiger und vielseitiger Schriftsteller; sein Werk umfasst nicht weniger als elf Romane und dreißig Erzählungen.
Was wird davon bleiben? Sicher sein Debüt-Roman »Jungen die übrigblieben«, den er 1950 als 24-Jähriger veröffentlichte. Manches seiner Bücher mag inzwischen Patina angesetzt haben, dieses wirkt erstaunlich frisch. Gerade hat der Mitteldeutsche Verlag diesen bedeutenden Antikriegsroman der deutschen Nachkriegsliteratur neu aufgelegt.
Im Sommer 1944 lässt sich der 18-jährige Walther Uhlig zusammen mit einigen Gleichaltrigen auf dem Truppenübungsplatz Zeithain zum Offiziersbewerber ausbilden. Selten ist der Wehrmachtsdrill mit seinen endlosen Strapazen und demütigenden Schikanen so hautnah geschildert worden. Uhlig wird bald klar, wie sinnlos die ganze Schinderei ist. Die sowjetische Übermacht rollt unaufhaltsam auf die Reichsgrenzen zu, am Ausgang des Krieges bestehen keinerlei Zweifel mehr. Uhlig und seine Kameraden werden zu Kanonenfutter ausgebildet. Ein erstes Zusammentreffen mit der Roten Armee macht auch dem fanatischsten Hitlerjungen klar, dass von »Endsieg« keine Rede mehr sein kann. Die Spunde werden versprengt, jeder kämpft für sich ums Überleben.
Loest beschreibt das Kriegsinferno frei von Pathos, mit geradezu schmerzlicher Nüchternheit. Der »Heldentod« kommt plötzlich, wie beiläufig werden Menschen erschossen, zerfetzt, niedergewalzt. So war das, so grausam, so erbärmlich, so banal. Erich Loest, der diese Hölle am eigenen Leib erlebt hat, hat einfach aufgeschrieben, wie es war. Aber was heißt »einfach«? Zu einer solchen Einfachheit muss ein Schriftsteller erst einmal imstande sein. Loest war dazu imstande. Von Anfang an erwies er sich als ein Meister in der schwierigen Kunst, die Kunst eben nicht wie Kunst aussehen zu lassen. Seine Bücher waren populär, ohne trivial zu sein. Falls es so etwas wie »Volksschriftsteller« je gegeben hat, Erich Loest war einer. Man kann ihn ohne Weiteres in einem Atemzug mit Hans Fallada nennen.
»Jungen die übrigblieben« endet nicht mit dem Untergang des Dritten Reiches. Uhlig überlebt, kehrt zu seinen Eltern zurück, betätigt sich auf dem Schwarzmarkt und verkommt langsam, aber sicher zum asozialen Element. Am Schluss kriegt er aber noch eben die Kurve und bemüht sich redlich, in seiner Heimat den Sozialismus mitaufzubauen. Um ehrlich zu sein: Auf diesen zweiten Teil des Romans könnte man ganz gut verzichten. Uhligs Bekehrungsgeschichte ist allzu breit ausgemalt; manches wirkt reichlich naiv und unglaubwürdig (die stets fröhlichen und hilfsbereiten russischen Soldaten). Im Nachhinein wirkt es beinahe tragisch, wie der junge Loest, voll guten Willens, an diesen Staat glaubt, welche Hoffnungen er in die frisch gebackene DDR setzt.
Erich Loest hat sich dafür nie geschämt. Warum auch? Das Schweigen und Verschweigen war ohnehin nie seine Sache. Schließlich hat er, im Gegensatz zu vielen hoch verdienten Politikern, Schriftstellern und Intellektuellen der alten Bundesrepublik, auch nie geleugnet, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Erich Loest konnte herzhaft austeilen, aber sich selbst hat er auch nichts geschenkt. Müsste man sein Leben und Werk mit einem einzigen Adjektiv beschreiben, es lautete: »wahrhaftig«.