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Kultur

»Es geht um Selbstoptimierung«

Claudia Müller über die Diskriminierung von Dicken

  »Es geht um Selbstoptimierung« | Claudia Müller über die Diskriminierung von Dicken

Die Amerikanistin Claudia Müller ist Teilnehmerin an einer Diskussion über das Dicksein in der Leistungsgesellschaft. Mit kreuzer online sprach sie vorab über das Stereotyp vom dicken Armen.

kreuzer online: Dicksein ist out in der Leistungsgesellschaft: Warum?

CLAUDIA MÜLLER: Dicksein wird nicht bloß als eine Körpereigenschaft verstanden, sondern als nicht wünschenswerter Zustand und zudem als eine Verhaltensdiagnose. Im öffentlichen Diskurs werden dem oder der Dicken oft Disziplinlosigkeit, Immobilität, Mangel an Selbstkontrolle und mitunter Passivität und Faulheit unterstellt. Das passt nicht in die Vorstellung der Leistungsgesellschaft, in der man mobil und flexibel, karrierebewusst, fleißig, fit und zielstrebig sein soll.

kreuzer online: Die Rede vom dicken Amerikaner ist populär – was stimmt daran nicht?

MÜLLER: Dicksein ist kein rein US-amerikanisches Phänomen, zu ganz unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen hat es auch immer dicke Menschen gegeben. Was neu ist: In den USA wird Fettleibigkeit als eine umfassende, nahezu epidemische Bedrohung empfunden, die es massiv zu bekämpfen gilt. Da wird dann auch schon mal vom war on obesity gesprochen. Dieser Krieg kann ja aber nur gewonnen werden, wenn das Dicksein, also die Dicken an sich verschwinden.

kreuzer online: Sprechen denn nicht die Statistiken schon dafür, dass die Fettleibigkeit in den USA besonders verbreitet ist?

MÜLLER: Zunächst – ich beschäftige mich als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin weniger mit den Statistiken und realen Zuständen, als vielmehr mit den Diskursen und Stereotypen hinsichtlich Fettleibigkeit und Armut und analysiere, wie das Stereotyp Fat Poor in unterschiedlichen Texten verwendet wird. Auf die Statistiken bezogen würde ich sagen, dass die Panik vor Fettleibigkeit und möglicher Folgen sowie Vorurteile über Dicke weitaus stärker verbreitet sind als das Dicksein. Und man muss beachten, dass die Statistiken auf durchaus umstrittenen und ganz verschieden ermittelten Werten fußen.

kreuzer online: Wie wurde das Stereotyp konstruiert und verbreitet?

MÜLLER: Es entsteht an der Schnittstelle der Diskurse über Armut und über Fettleibigkeit, die sich in vielen Punkten stark ähneln. Die Dicken bzw. die Armen werden als anders konstruiert, ihnen werden viele negativ konnotierte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben, bspw. Faulheit, Disziplinlosigkeit, Versagen. Beide Diskurse werden sehr emotional geführt, bedienen sich einer Panik- und Kriegsrhetorik und verwenden vermeintlich neutrale Definitionen und Zahlen, wobei ja sowohl der Body Mass Index als auch Armutsgrenzen menschgemacht und veränderlich sind. Die für mich spannendste Ähnlichkeit zwischen beiden Diskursen ist, dass sowohl von den Armen als auch von den Dicken nicht bloß erwartet wird, dass sie sich ändern, sondern dass sie den Wunsch nach Veränderung verinnerlichen sollen. Da kommen wir wieder zur Leistungsgesellschaft – es reicht ja nicht, einen Job einfach gut zu machen, man soll sich immer weiter verbessern und weiterbilden, aus innerem Antrieb heraus. Es geht um Selbstoptimierung, sei das der Lebenslauf, die Karriere oder Berufschancen allgemein oder der eigene Körper. Die Dicke soll abnehmen wollen und der Arme soll sich beruflich verbessern wollen. Beide Zustände werden schnell und oft kritisiert. In der Logik der Diskurse kann die Arme ja etwas gegen ihre Armut tun und der Dicke kann abnehmen. Das führt nicht selten zu Schuldzuweisungen und Diskriminierung. Diese Ähnlichkeiten fördern die Verknüpfung von Armut und Fettleibigkeit und unterstützen die innere Logik des Stereotyps. Dieses taucht sowohl in eher fakten-basierten Kontexten, als auch in fiktionalen Texten auf. Und es greift mitunter auf ältere und andere populäre Stereotype über Arme zurück, wie bspw. in der Serie »Here Comes Honey Boo Boo« und ihrer Darstellung einer Fat Poor White Trash Familie. Das Anknüpfen an ältere Stereotype steigert die vermeintliche Plausibilität von Fat Poor.

kreuzer online: Hat es auch Auswirkungen auf Deutschland?

MÜLLER: Das Stereotyp ist im hiesigen Diskurs schon präsent. Weniger stark ausgeprägt als in den USA, wo es auch in der Populärkultur auftaucht, aber auch in Deutschland gibt es immer wieder Vorstellungen darüber, dass die Armen ihr Geld für ungesundes, süßes, fettiges Essen oder Rauschmittel ausgeben und viel vor dem Fernseher sitzen. Vor einigen Jahren war viel von der sogenannten Unterschicht die Rede, da gab es Beiträge, die eine sogenannte Unterschichtenkultur diagnostizierten. Das vermutete individuelle Verhalten von Arbeitslosen wurde zeitweise mehr diskutiert als Schwachstellen im Sozial- und Bildungssystem, die Situation arbeitender Armer und Fehler der Hartz-Reformen. Interessant ist auch, wie unterschiedlich Kritik am dicken Armen und am dicken Nicht-Armen ausfällt. Oder wie unterschiedlich Dicksein oder bspw. Überarbeitung als gesundheitsschädlich verstanden werden. Gibt es Kampagnen gegen 60-Stunden-Wochen, weil die auf Dauer die Gesundheit der Betroffenen gefährden?

kreuzer online: Gibt es bei dem Stereotyp Unterschiede nach Geschlecht auszumachen? Also ist die dicke Frau typischer oder so?

MÜLLER: Das ist eine Frage, die ich noch nicht abschließend beantworten kann. Theoretisch funktioniert das Stereotyp losgelöst von Geschlecht oder auch Ethnie. Aber in den literarischen und filmischen Texten, die ich mir bisher angesehen habe, fällt schon auf, dass die dicken Armen überwiegend weiblich sind. Die dicke Frau ist so gesehen mehr im Gespräch, was aber auch damit zu tun haben kann, dass weibliche Körper stärker an Idealvorstellungen von Schlankheit und Zierlichkeit gemessen werden, Vorstellungen die auch in Mode, Medien und Produktwerbung immer wieder bedient werden.


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