Am Montag ist Christian Führer, der ehemalige Pfarrer der Nikolaikirche, mit 71 Jahren gestorben. Er war das Gesicht der Friedlichen Revolution in Leipzig. Ein Nachruf.
»Wendeheld« hat man ihn genannt, »Held der Friedlichen Revolution«, und zwar ganz unironisch. Das ist bemerkenswert, denn echte Helden sind selten geworden heutzutage – zumindest in Deutschland schien die Bezeichnung für alle Zeiten diskreditiert. Aber wenn ein Held jemand ist, der sich für das Gemeinwesen und seine Mitmenschen einsetzt, dabei sein eigenes Leben riskiert, dann war Christian Führer einer. Er war auch eine Nervensäge – ganz im Sinne der Ex-Oberprotestantin Margot Käßmann, die Christen aufforderte, »Nervensägen« zu sein, »die noch fragen nach Sinn, nach Würde, nach Gerechtigkeit«.
Als am 9. Oktober 1989 die Menschenmassen aus der Nikolaikirche zur Montagsdemonstration auf die Straße strömten, hatte Führer Angst, er hat es oft erzählt. Und er hatte allen Grund dazu: Bei den Genossen lagen die Nerven blank. Die SED-Führung setzte auf Einschüchterung; das Politbüro hatte sich ausdrücklich mit der chinesischen Regierung solidarisiert, die im Juni desselben Jahres die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking brutal niedergeschlagen hatte, und Führer war die Information zugespielt worden, dass Honecker nach den Feierlichkeiten zum »Tag der Republik« am 7. Oktober die Leipziger »Konterrevolution« mit Gewalt zu beenden gedachte. Tatsächlich standen mehr als 3.000 Volkspolizisten, mehrere Hundertschaften Kampfgruppen und natürlich die Stasi zum Einsatz bereit. Es war keineswegs ausgemacht, dass es kein Blutvergießen geben würde. Aber der Pfarrer der Nikolaikirche ließ sich nicht beirren, er sprach sich selbst und den anderen Demonstranten Mut zu und ist mit auf die Straße gegangen. Das Wunder geschah: Die Staatsmacht kapitulierte vor den Menschenmassen, 70.000 sollen es gewesen sein. »Ich dachte im Stillen«, erinnerte sich Führer, »jetzt ist es um die DDR geschehen.« Und so war es.
Natürlich war Führer nicht der einzige Held von 1989. Andere, etwa Christoph Wonneberger, der Pfarrer der Lukaskirche in Volkmarsdorf, haben eben so viel oder mehr riskiert, ohne je Führers Bekanntheitsgrad erreicht zu haben. Führer selbst hat das nie bestritten. Als ihm 1994 zusammen mit den Bürgerrechtlern Uwe Schwabe und Gesine Oltmanns das Bundesverdienstkreuz verliehen werden sollte, teilte er im Auftrag der drei Ausgezeichneten dem Bundespräsidenten mit, dass alle drei den Orden ablehnen würden, sollte Wonneberger ihn nicht ebenfalls bekommen.
Sicherlich hat er seine Prominenz auch genossen. Jedenfalls hat Führer sie später genutzt, um andere Anliegen, die ihm wichtig waren, in die Öffentlichkeit zu bringen, besonders die soziale Ungerechtigkeit im vereinigten kapitalistischen Deutschland trieb ihn um. Manchem ist er damit auf die Nerven gegangen, und vielleicht hat er seine Rolle als moralische Instanz bisweilen auch überstrapaziert. Natürlich ist er zwangsläufig Teil einer Erinnerungskultur geworden, die bekanntlich nicht nur von Zeitzeugen und seriösen Historikern, sondern auch von den Medien und nicht zuletzt von den Interessen der Tourismusindustrie bestimmt wird. Die Wahrheit ist, dass die »Wende« nicht von langer Hand geplant war; es gab weder eine konzertierte Aktion noch »Rädelsführer«, die alle Fäden in der Hand hielten. Aber die Medien brauchen nun einmal Helden, sie brauchen ein Gesicht. Da kam ihnen der kleine Mann mit der Igelfrisur und der unvermeidlichen Jeansweste gerade recht. Ob er wollte oder nicht, Christian Führer wurde zur personifizierten Revolution.
Aber er blieb eben auch der Pfarrer Führer. Das heißt, er tat weiter das, was er immer getan hatte: sich einmischen, und zwar mit unverminderter Energie. Hatte er nicht erlebt, dass man wirklich und wahrhaftig die herrschenden Verhältnisse ändern kann, selbst als kleiner Gemeindepfarrer? Er sah keinen Anlass, damit aufzuhören.
Seine Überzeugung, dass wir das Unmögliche möglich machen können, verdankte sich jedoch nicht zuerst dieser historischen Erfahrung. Als Führer seine Nikolaikirche für alle öffnete, war das nicht nur ein geschickter politischer Schachzug. Das »Offen für alle« ergab sich unmittelbar aus seinem Glauben und seiner Vorstellung von Kirche. Vermutlich saßen an diesem Herbsttag im Jahre 1989 mehr Atheisten als Christen in der Kirche, selbstverständlich auch die Stasi. Das hat ihn nicht gestört, im Gegenteil. »Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten«, heißt es im Matthäus-Evangelium. Christian Führer hat nicht nur Friedfertigkeit und Offenheit gepredigt, er hat ein lebendiges unvergessliches Zeichen gesetzt, das alle, Christen, Atheisten, Stützen und Gegner des SED-Regimes, gleichermaßen verstehen konnten.