Es zieht ein Geist durch Leipzigs Straßen. Wer genauer hinguckt, ist ihm vielleicht schon begegnet. Er schmückt Leipziger Mauern, Fassaden, Hauseingänge. Der Geist heißt Harry Gelb – hinter ihm verbirgt sich ein unbekanntes Künstler-Duo, das Orte der Stadt willkürlich mit steinernen Kacheln versieht. Die ersten sind aber schon wieder verschwunden.
Hinter Harry Gelb verbergen sich wahre Multitalente: Die Künstler sind Keramiker, Fotografen und Zeichner. Zudem offenbar leidenschaftliche Weltreisende. Sie haben Steinkacheln mit Polaroid-Fotos bedruckt, die Alltagssituationen in fernen Ländern und Städten zeigen. Ein Stuhl in einem leeren Raum, eine asiatische Frau neben einer mit Graffiti überzogenen Hauswand, eine anonyme Bar in einer anonymen Stadt. Meist sind nicht einmal Menschen auf den Kacheln zu sehen, und wenn, dann bleiben sie so geisterhaft wie die Künstler selbst: Man weiß nicht, wo sie sind, wer sie sind, meist nicht einmal, welchen Tätigkeiten sie auf den Polaroids nachgehen. Die meist quadratischen, etwa 10 cm breiten Steinkacheln sind nummeriert und weisen ansonsten nur die Signatur »Harry Gelb« auf.
Die Unsichtbaren geistern nicht nur durch Leipzig. Auch in Frankreich, Singapur oder Argentinien gibt es die mit laminierten Fotos verzierten Kacheln zu entdecken. Auf einem Blog veröffentlicht das Duo eine Auswahl der Kachelkollektion – Anfang Juni wurde die 500. Gelb-Kachel präsentiert.
Das »Ghost of ourselves«-Projekt begeistert auch, weil es den urbanen Beobachter und Stadtbummler auf eine Art Schnitzeljagd schickt. Er wird wortwörtlich zum Ghosthunter, denn wer einmal einen Ghost entdeckt hat, hält weiter Ausschau und freut sich über jeden Fund. Wie es dem Streetart-Magazin 14K vor etwa einem Jahr verriet, sieht das Duo das Ganze als »eine Art Social Globalisation Projekt«: »Ich finde die Vorstellung schön, dass sich jemand in Buenos Aires mitten auf der Straße ein kleines Stuttgarter Ladengeschäft anguckt und in Stuttgart jemand auf einen Ausriss Argentiniens blickt. Es geht um Vergänglichkeit, um das, was wir sein wollen, was wir hinterlassen haben oder eben nicht. Um die Absurdität der Ernsthaftigkeit.«
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Begibt man sich auf die Suche nach der Herkunft des Pseudonyms »Harry Gelb«, stößt man schnell auf den Schriftsteller Jörg Fauser. Dieser wurde 1987, in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag, mysteriöser Weise als Fußgänger auf der Autobahn von einem Lastwagen erfasst und starb. 1973 hatte er »Die Harry Gelb Story: Gedichte« veröffentlicht. Auch sein 1984 erschienener Roman »Rohstoff« erzählt die Geschichte seines Protagonisten und Alter Egos Harry Gelb. Obwohl es sich um ein fiktives Werk handelt, gilt »Rohstoff« aufgrund der vielen Parallelen zu Fausers Leben als autobiografisches Zeugnis über Drogensucht, Deutschland in den siebziger Jahren und die Schriftstellerei.
Das Streetart-Projekt von Harry Gelb führt nicht nur zu Fauser, sondern regt auch ohne Hintergrundwissen zum Nachdenken und Fantasieren an. Man fragt sich unmittelbar: Wo wurde dieses Foto geschossen? Wer sind diese Menschen? Wann hat sich diese Szene zugetragen?
Insgesamt 26 Ghosts sollen laut Harry-Gelb-Blog ursprünglich durch Leipzig gegeistert sein. Vor Kurzem wurde bekannt, dass am Lindenauer Markt bereits eine Kachel verschwunden ist. An einer Hausfassade auf der Lützner Straße fehlt eine weitere. Der Besitzer hatte sie entfernt, »denn wenn einmal was dran ist, kommt immer mehr dazu«. Bei einem anderen Exemplar, das es neben dem Fotoautomaten am Feinkostgelände zu bewundern gab, wurde das Polaroid abgezogen. Statt des schwarz-weißen Matrosenfotos schmückt die Kachel nun ein Edding-Tag, eine andere Form urbaner Kunst also. Wer sich noch auf Kacheljagd begeben möchte, sollte sich daher beeilen. Denn Straßenkunst währt bekanntlich nicht ewig. Sie verschwindet so plötzlich, wie sie aufgetaucht ist. So wird jedoch jede Ghost-Entdeckung wahrlich zur Goldgrube, jeder Stadtspaziergang zum Suchspiel.