»Wir müssen das Raumschiff fortschaffen!« »Was?« »Ähm, wir müssen dem Fortschritt Raum schaffen!«: Mit herrlichen Wortspielen punktet das Sommertheater der Cammerspiele. Sehr frei nach Voltaire kreiselt sich »Candide oder Die letzte aller möglichen Welten« als absurde Satire auf schiefer Ebene ein, bis alles in den Abgrund rutscht. Weder Monarchie noch Marktwirtschaft können das Unheil auf der Freiluftbühne aufhalten. Regisseur Rico Dietzmeyer lässt beide Ordnungen vielmehr als Motoren auftreten, die am hoch komprimierten Abend alles in den Orkus schießen.
Von Beginn tut sich der Abgrund mittig hinten an der Bühne auf. Aufgeworfene Bretterbruchstücke markieren den Schlund, dienen zwischendurch mal als Palisadenzaun und Klettergerüst auf der sonst leeren Spielfläche. Dort wird zu Beginn eine riesige, böse guckende, braune Maske aufgezogen: Willkommen in Saxonia, der besten aller möglichen Welten. Das behaupten zumindest Herrscher wie Bewohner des Landes. Frei nach Voltaires Satire »Candide oder der Optimismus« regiert sich realistisch gerierende Zuversicht nach Leibniz die gesellschaftliche Stimmung. Den Text hat der Regisseur zusammengestrichen und für den Stoff eine eigene, passende Sprache gefunden. Philosophische und gesellschaftskritische Seitenhiebe – »Produktivität ist die neue Kausalität« – kommen auf Taubenfüßen daher. Auch eine über die Saxonia-Lokalisierung und manche Anspielung – so heißt es »deutsche Schulter« statt der kalten, die gezeigt wird – touchierte Stimmung im Pegida-Freistaat ist nicht moralinsauer, sondern wohl dosiert.
Grotesk überzeichnet sind die Rollen, in denen alle Darsteller spielwütig aufgehen. Marie Wolff etwa changiert zwischen der Baronin im weltgewandten Chique und einer zickig-spröden Mamsel. Fast akrobatisch turnt Philipp Nerlich als kraftstrotzender Cacambo – die heimliche Hauptrolle, weil der einzige vernünftige Charakter – über die Bretter, gibt mit hübsch kantigen Gesichtsturbulenzen seinen Springinsfeld. Auf Körperlichkeit setzt die ganze Inszenierung. Alle Rollen haben eine mimisch-gestische Macke und agieren in verrenkungsreicher Expressivität immer ein bisschen drüber. Da tauchen Stummfilmästhetik auf und Zitate an eine Wandertheatertradition à la Commedia dell’arte. Absolut in die Vollen geht diese Inszenierung und die Zurückhaltung von jeder Zurückhaltung geht auf.