Der »Arabische Frühling« 2011 brachte nicht die erhoffte Revolution. Zwei Jahre später stürzte das Militär den ersten frei gewählten Präsidenten des Landes. Mohammed Mursi sitzt hinter Gittern. Die Schaubühne Lindenfels wirft einen filmischen Blick zurück auf die Zeit direkt vor und während des Umsturzes des Mubarak-Regimes mit drei neuen Werken, die jene Ära des Umbruchs reflektieren.
»Cairo Motion Pictures«: ab 12.10., Schaubühne Lindenfels
Film der Woche: Die Handlung des neuen Haneke-Dramas dreht sich einmal mehr um die Mitglieder einer gut situierten Familie, deren traditionsreiche Baufirma in Calais vor der Veräußerung steht, weil Patriarch Georges Laurent zu alt, seine Tochter Anne nicht willens und sein Enkel Pierre überfordert ist, sie weiterzuführen. Die erste Filmszene hat mit alledem noch gar nichts zu tun, ist jedoch von nachhaltiger Bedeutung und zeigt anhand eines Handyvideos, wie eine 13-Jährige erst ihren Hamster und später ihre depressive Mutter vergiftet. Das Mädchen ist Eve, die Tochter von Georges’ Sohn, dem Arzt Thomas, der nach der Trennung von seiner ersten Frau kaum etwas mit dem Kind zu tun hatte. Das ändert sich durch die Notfallsituation, deren wahre Ursache nur der Zuschauer und Eve kennen, die nun mit in die Mehrgenerationenvilla der Laurents einzieht. Haneke beobachtet diese zerbrochene Familienkonstellation wie üblich aus kühlster Distanz, in einigen Passagen erahnt man nur, um was es in der Ferne gehen könnte, und Sympathieträger gibt es keine. Eine Lieb- und Freudlosigkeit wohnt allen Figuren inne, unter anderem verkörpert von Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert und Mathieu Kassovitz, und wenn das titelgebende »Happy End« kommt, ist es Haneke-typisch unvermittelt, widerspenstig und offen. Zu bemüht wirken auf den ersten Blick nur die Szenen, in denen der Film die Flüchtlingskrise streift. Doch auch das gehört zum Konzept dieses grundsoliden »Best-of-the-worst-of«-Dramas. Ausführliche Kritik von Peter Hoch im aktuellen kreuzer.
»Happy End«: ab 12.10., Passage Kinos
In seinem Heimatdorf Goksung hat Cop Jong-gu alles im Griff, normalerweise. Dann ersticht ein Mann scheinbar grundlos seine Frau, eine andere Dorfbewohnerin verbrennt ihre ganze Familie und erhängt sich. Alle Spuren führen zu einem Japaner, der in einer einsamen Hütte im Wald lebt. Steht der Fremde etwa mit dem Teufel im Bunde? Während Jong-gu versucht, die Fäden zu entwirren, pirscht sich das Grauen immer näher heran – auch seine kleine Tochter Hyo-jin verhält sich mit einem Mal wie besessen. Dem neuen Film von Na Hong-jin (»The Chaser«) eilte ein vielversprechender Ruf voraus: Vom blutigsten Film des Festivals war nach Cannes die Rede. Aber keine Angst, so hoch ist der Splatterfaktor dann doch nicht. Nicht zuletzt dank des dynamischen Vater-Tochter-Duos funktioniert »The Wailing« nicht nur als Genrefilm, sondern auch als garstige Religionssatire. Die Moral von der Geschicht: Trau, schau wem, (nicht nur) wenn es um Teufelsaustreibungen geht! Mit deren spektakulärer Inszenierung setzt Regisseur Na Hong-jin hier knallige Highlights, die man im westlichen Horrorkino so nicht erlebt. Ausführliche Kritik von Karin Jirsak im aktuellen kreuzer.
»The Wailing – Die Besessenen«: ab 12.10., Luru Kino in der Spinnerei
Der Roman »Minority Report« von Philip K. Dick – und dessen Verfilmung durch Steven Spielberg – zeichneten die Zukunftsvision eines perfekten Staates. In ihm gehört Kriminalität der Vergangenheit an, da die Menschheit einen Weg gefunden hat, zukünftige Taten bereits in der Gegenwart zu verhindern. Diese Vision ist längst nicht mehr reine Utopie. Schon heute arbeiten Einsatzkräfte etwa in Chicago, Paris und Berlin mit Früherkennungssystemen, die eine Vielzahl von Daten auswerten und auf diese Weise potenzielle Verbrechensherde ausmachen. Menschen werden kategorisiert und die Wahrscheinlichkeit einer Straftat ermittelt. Diese Algorithmen sind allerdings höchst zwiespältig, regen sie doch rassistische Vorgehensweisen an: die Wahrscheinlichkeit, dass etwa ein Afroamerikaner eine Straftat begeht, ist eben ungleich höher. Entsprechend reagieren die computergestützten Streifenpolizisten und kontrollieren vermehrt Ausländer. Regisseur Matthias Heeder stellt die unterschiedlichen Systeme und die Intelligenz dahinter vor, spricht mit Kritikern und Befürwortern – und Opfern wie Robert McDaniel, dem ein normales Leben verwehrt wird, da er als potentieller »Gefährder« auf der Liste der Überwachung steht. Seine Erlebnisse stellt Heeder mit Schauspielern nach, was leidlich gut funktioniert. Auch der übermäßige Einsatz von flashigen Animationssequenzen, die die oftmals trockenen Interviews auflockern sollen, wirkt etwas zu bemüht. Das ändert freilich nichts an der Brisanz seines Sujets.
»Pre-Crime«: ab 5.10., Passage Kinos
1989: ein Schicksalsjahr – nicht nur für das Land, in dem Anne (Josefine Preuß) lebt, sondern auch für sie. Ihr Verhältnis zur DDR ist gespalten. Ihre Mutter wurde vor Jahren in den Westen abgeschoben, weil sie für Wolf Biermann auf die Straße ging. Ihr Vater ist ein Duckmäuser, der um seine Anstellung am Ost-Berliner Theater bangt. So bekommt er auch nicht mit, dass Anne schwanger ist. Er weiß noch nicht einmal, dass das Kind von Matti (Marc Benjamin) ist – ausgerechnet dem Sohn seines Erzfeinds Harry (Devid Striesow) am Theater. Matti reagiert nicht gerade euphorisch, als er es von Anne erfährt. Also steht ihr Entschluss fest: Sie will rübermachen in den Westen zu ihrer Mutter, zur Not allein. Ihr Vater ist sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Otto Wolf (Jörg Schüttauf) ist Vollblut-Schauspieler. Gemeinsam mit seinen Kollegen plant er ein Stück über die scheidende DDR. Otto spielt Honecker, und das so überzeugend, dass sich die Stasi an seine Fersen heftet, als sie ihn in voller Verkleidung vor dem Theater mit Anne in seinen Armen erblickt. Während seine Tochter auf dem Weg zur Demo nach Leipzig ist, um sich dort einen Pass für die Ausreise zu besorgen, versucht Otto sein Schauspieltalent dafür zu nutzen, den Einsatz von Panzern bei der Montagsdemo zu verhindern. Das Chaos ist vorprogrammiert in dieser recht launigen Verwechslungskomödie alter Schule. Das wunderbare Ensemble zeigt Spielfreude, allen voran Jörg Schüttauf (»Berlin is in Germany«), der einen wahrhaft vortrefflichen »Honni« gibt. Die Dekors sind voller Details, in denen sich jeder mit Ostbiografie sofort wiederfindet. Schließlich wuchs Regisseurin Franziska Meletzky (»Nachbarinnen«) selbst in Leipzig auf. Sie verpasst ihrer Heimatstadt mithilfe der Technik eine authentische Zeitreise. Insgesamt wirkt der Spaß aber dann doch recht harmlos und unbeholfen.
»Vorwärts immer!«: ab 12.10., Passage Kinos
Flimmerzeit September 2017