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Filmkritik

Wunde Vergangenheit

»Über Leben in Demmin«: Ein schwieriges Kapitel lässt sich nicht einfach schließen

  Wunde Vergangenheit | »Über Leben in Demmin«: Ein schwieriges Kapitel lässt sich nicht einfach schließen

Plötzlich machten Rasierklingen eine blutige Runde. Männer und Frauen ritzten sich die Handgelenke auf, ihren Kindern auch. Andere erhängten sich, Mütter banden sich ihre Kinder an die Körper und gingen ins Wasser. Der Massensuizid hunderter Demminer Bürger im April 1945 ist ebenso grausam wie unverständlich, wenn man nicht der simplen, geschichtsrevisionistischen Antwort folgt.

Im Frühjahr 1945 ist der Krieg längst verloren, die Wehrmacht sprengte hinter sich auf der Flucht alle Brücken. Die Stadt Demmin mit ihren 15.000 Einwohnern war im Dreistromland aus Peene, Tollense und Trebel abgeschnitten und lag darin wie eine Insel und mit ihr die anrückende Rote Armee. Deren bestialisches Verhalten hätte die Einwohner aus Scham in den Tod getrieben, erklären Nazi und andere Völkische, die alljährlich am 8. Mai in Demmin aufmarschieren – nicht um den Tag der Befreiung zu feiern. Gräbt man tiefer, ist zu erfahren, dass viele sich das Leben nahmen, als die Sowjetarmisten noch gar nicht in der Stadt angekommen waren. Hier muss die NS-Ideologie gewirkt haben, lieber unterzugehen mit dem »Tausendjährigen Reich«, statt dessen Ende zu erleben.

Wie geht man heute mit diesem Ereignis um, wie redet man über und gedenkt man diesen Massensuizid? Hier beginnt »Über Leben in Demmin« und zeigt einen Tag in der Stadt von den frühen Morgenstunden bis zum Abend. Es ist nicht irgendein Tag, sondern der 8. Mai. Und so parallelisiert der Film geschickt diverse Stadtansichten und Bewohnereinsichten mit einem Naziaufmarsch. Zeitzeugen, die Damaliges miterlebt haben, kommen zu Wort, und andere geben Berichte Verwandter wider, andere stammen schlichtweg aus Demmin und müssen sich darum heute dazu verhalten. Ums Recht haben geht es Regisseur Martin Farkas nicht, ohne Namen und Zuordnung ihrer gesellschaftlichen Position sprechen seine Protagonisten in die Kamera. Dadurch gelingt ihm ein differenzierter Blick.

Ohne tatsächliche Plünderungen, Vergewaltigungen, Brandschatzungen zu relativieren, tun sich über die Protagonisten Fragen auf, deren Antworten naturgemäß vage bleiben. Hier wird – vom Naziaufmarsch abgesehen –, kein Opfermythos einer unschuldigen Stadt behauptet. Wenn sich eine ältere Frau freut, dass mit dem Brand wenigstens die SS-Uniform des Vaters zerstört wurde, die hätte ihm ja später Ärger eingebracht, verpufft solches Ansinnen sofort. Wenn ein junges Pärchen die Demo beobachtet und für okay hält, zeigt sich Gegenwart: Er will nicht einsehen, warum man als Träger von Thor-Steinar-Kleidung gleich Nazi sein soll, sie will die linke Demo einfach verbieten, dann gäbe es keinen Stress, er faselt etwas mit von »mit Maschinengewehr da durchlaufen« … Diese disparaten Stimmen kann man für sich stehen lassen – ja, es ist sogar ein Gewinn, sie nebeneinander zu stellen, ohne Kommentare. Weil so viele Menschen sprechen und Zeugnis davon geben, wie schwierig der Umgang mit ihr ist, wird die Wunde Vergangenheit plastisch.


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