Leere, heruntergekommene Fabrikhallen, an der Wandzeitung hängt das Mannschaftsfoto vom Fußballweltmeister Deutschland aus der Bild-Zeitung von 1990, darunter reihen sich Aufkleber wie »Solidarität mit Weiß-Afrika«, »Mitteldeutsche Nationaldemokraten«, »Ich bin stolz ein Deutscher zu sein – DSU«. Die Aufnahmen stammen vom Leipziger Fotografen Harald Kirschner, der 1991 die verlassenen Arbeitsplätze im ehemaligen VEB Schwermaschinenbau S. M. Kirow Leipzig aufnahm. Heute wird in den Hallen wieder produziert, welcher Geist sie durchweht, ist nicht bekannt.
Kirschners Serie zu verwaisten Arbeitsplätzen nach 1990 stellt einen Beitrag dar, den das Kuratorenduo und die Spector Books-Verleger Anne König und Jan Wenzel zum F/Stop – Festival für Fotografie einlud, das sie zum zweiten Mal betreuen, 2018 steht es ganz unter dem Motto »Zerrissene Gesellschaft«. Dazu gehört vor allem das Jahr 1990, das laut König und Wenzel bisher noch nicht intensiv aufgearbeitet wurde.
»In Fotografien wird Zeit greifbar, wir können sie zerlegen, aufs Neue zusammensetzen, um die Gegenwart so auf andere Weise betrachten zu können.« (König/Wenzel)
Nach diesem Grundsatz organisierten die Kuratoren die Hauptausstellung in der Werkschauhalle auf der Spinnerei. »Ereignisse von langer Dauer« lautet der Titel. Wie bereits 2016 wird die Präsentation von Fotografien, Fotobüchern, Comics, Zeichnungen und Bewegtbildern streng in einzelne Kapitel geteilt, die mittels überdimensionaler Überschriften samt Textassoziationen und Erklärungen die Raumstruktur und Rezeption vorgeben. So lassen die Kuratoren wenig Spielraum für das Foto an sich, das sich einer Armee von Buchstaben ausgesetzt sieht. Es entsteht nicht nur der Eindruck, dass man sich in einem Buch befindet, sondern dass dem Foto an sich nur skeptisch gegenüber getreten werden kann. Eigentlich kann es gar nicht alleine existieren, es muss mit Text umrahmt werden. Dieses didaktische Manöver mag Buchgestalter und Verleger erfreuen, aber unterstellt den Abbildgebern, dass sie es »nicht richtig« machen. Wir wissen alle, dass wir in einer Gesellschaft der Inszenierungen leben, aber warum gerade ein Festival für Fotografie diesem Medium so ein gründliches Misstrauen entgegenbringt, erschließt sich nicht.
Motive
Wie schon 2016 wiederholt sich in der Werkschauhalle auch ein sogenannter Motivraum. Waren vor zwei Jahren Schlafende zu sehen, sind es heute Sprechende. Es mischen sich historische Arbeiten vom ersten Bildreporter Erich Salomon (1886–1944, starb im KZ Auschwitz), der Marlene Dietrich im Bett beim Telefonieren und wichtig wirkende Männer im Parlament abbildete. Den historischen Aufnahmen stehen Interviews aus der Günter Gaus-Reihe gegenüber – wie etwa mit Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer.
In jenem Motivraum sah man vor zwei Jahren ein Foto der Berliner Fotografin Ute Mahler, auf dem sie Ibrahim Böhme zeigte. Die gesamte Serie, die 1990 im Auftrag des Stern begann, widmet sich in den Räumen der Galerie Dukan in zwölf Schwarz-Weiß-Fotografien dem einstigen Hoffnungsträger der ostdeutschen SPD: Ibrahim Böhme. Gefeiert auf dem Parteitag 1990 in Leipzig, danach als Stasi-IM enttarnt, von erlittenen Schlaganfällen gezeichnet, nimmt ihn Mahler letztmals 1996 auf. Den Fotografien steht eine Textwand gegenüber, die die Beweggründe der Fotografin und die Geschichte von Böhme erläutern. Da die Texte ebenso im Katalog nachzulesen sind, entsteht hier der Eindruck, dass sich die Fotografien zum Anhängsel entwickeln und den Textbahnen als Illustration dienen, obwohl die Fotografien den Anlass der Auseinandersetzung mit dem Thema darstellen.
NSU und zerstörte Landschaften
In weiteren Kapiteln werden zerstörte Landschaften, der NSU und der Prozess thematisiert – eine weitere Konstante in der thematischen Auseinandersetzung zum vergangenen Festival. Heute allerdings dominiert die Zeichnung zu diesem Thema. Das liegt vor allem daran, dass die Kuratoren der Zeichnung mehr Komplexität zusprechen als der Fotografie – oder mit anderen Worten: »Der Akt der Übersetzung von Wirklichkeit, die Anreicherung von inneren und äußeren Bildern, ihre Verdichtung, macht die Zeichnung im gegenwärtigen Moment vielleicht zu einem Medium, das die Komplexität der heutigen Welt angemessener darstellen kann als die Fotografie«, erklären König und Wenzel in der Einleitung der Festivalzeitung.
»Vielleicht« bleibt dick unterstrichen nach dem Besuch des Untergeschosses der Halle 14. Hier zeigen Ludovic Balland, Jonathan Horowitz und Ferdinand Kriwet in ihren jeweiligen Installationen US-amerikanische Wahlkämpfe und deren Wirkungen und kommen ganz ohne Zeichenstrich aus.
Wirken die Ausstellungsräume wie überdimensionale Buchseiten, so kann im Archiv Massiv der direkte Vergleich von Fotobüchern angetreten werden. Zur Auswahl stehen Timm Rauterts Krankenhaus-Fotobuch aus dem Jahr 1993 und das Krankenhausbuch von Ludwig Kuffer, Andreas Langfeld und Elisabeth Neudörfl, welches im April 2018 bei Spector Books erschien. Dass sich der Klinikalltag in den letzten 25 Jahren stark veränderte, zeigen die Motive recht deutlich. Die Kuratoren legen zudem großen Wert darauf, dass das von Otl Aicher gestaltete Rautertsche Fotobuch »die Idee des lebendigen Zusammenspiels von Text, Fotografie und Gestaltung« aufweist. Das mag nicht verwundern – das Leitmotiv könnte für das gesamte Festival stehen.Was allerdings mehr verwundert, ist der Umstand, dass das Festival von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung unterstützt wird, die wiederum beide Fotobücher initiierte, und nicht irgendein Krankenhaus gezeigt wird, sondern das Alfried-Krupp-Krankenhaus. Platz zur Reflexion dieses Umstandes sucht man vergebens.
F/Stop auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz
Bereits am vergangenen Dienstag wurde auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz die Installation »Das Jahr 1990 freilegen« eröffnet. An einem Display sind historische Schwarz-Weiß-Bilder von Andreas Rost aus dem Jahr 1990 zu sehen, der zu dieser Zeit Fotografie an der HGB studierte. Die Fotos sind eingebettet in Texte, die aus historischen Quellen stammen, Berichten aus jener Zeit vom im Jahr 2000 verstorbenen Fotografen Christian Borchert sowie Texten von Jan Wenzel.Auch hier zeigt sich allerdings der gehörige Textüberschuss zu den Fotografien. Von Weitem kündet kein starkes Bildmotiv, sondern Worte wie »Westmilch«, »Ostzucker« und »Die Geschäfte laufen glänzend«. Zudem fehlen die Quellenangaben zu den Fotografien, denn sie stammen von unterschiedlichen Plätzen aus verschiedenen Orten.Hilfreich zum Verstehen sind dabei sicherlich die täglich um 18 Uhr angebotenen Gesprächsrunden am Display.Am Donnerstag findet auf der Spinnerei von 15 bis 18 Uhr der Workshop »Das Jahr 1990 freilegen« statt. Dabei kommen auch die Fotografen Christiane Eisler, Matthias Hoch und Harald Kirschner zur Sprache.
Wie in den vergangenen Jahren gesellen sich auf dem Spinnereigelände Komplizen des Festivals hinzu. Im Archiv Massiv gewähren die Fotografien von Walther Le Khon einen Blick hinter die Kulissen vergangener F/Stops oder der Halle 14.Im Stadtraum befinden sich noch jede Menge Satelliten. Im Museum der bildenden Künste ist die Serie »Frauenporträts« der Leipziger Fotografin Karin Wieckhorst zu sehen. Sie wurde erstmals 1992 ausgestellt und zeigt die Lebensgeschichten von ganz unterschiedlichen Frauen und wie sie die Zeit nach 1989 erlebten.