Im November 1918 fegt auch in Leipzig die Revolution die alte Ordnung hinweg. Für ein halbes Jahr regiert ein Arbeiter- und Soldatenrat die damals viertgrößte Stadt Deutschlands. Die Geschichte der Leipziger Räterepublik ist kurz, aber turbulent – und wert, dass sie wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt.
Die Revolution erreicht Leipzig am 8. November, einem Freitag. Im Laufe des Vormittags versammeln sich im Hauptbahnhof etwa hundert Soldaten und Matrosen auf Heimaturlaub und beschließen, nicht mehr an die Front und zu ihren Häfen zurückzufahren. Vor allem die Seeleute sind in Aufruhr. Als wenige Tage zuvor bekannt geworden war, dass die Marineführung die deutsche Flotte zu einer letzten Entscheidungsschlacht gegen die Royal Navy auslaufen lassen wollte, verweigerten die Matrosen den Befehl und probten den Aufstand. Von Wilhelmshaven und Kiel breiteten sich die Unruhen wie ein Flächenbrand über das ganze Reich aus.
Nachdem die Aufständischen die Bahnhofswachen entwaffnet haben, ziehen sie durch die Innenstadt. Irgendwer hat ein rotes Taschentuch an einem Stock befestigt, das dem Zug vorangetragen wird. In der Petersstraße wirft ein Sympathisant ein rotes Fahnentuch aus einem Fenster herunter, das das Taschentuch ersetzt. Auf seinem Weg durch die City vergrößert sich der Zug ständig; bald hat sich die Zahl der Demonstranten verdoppelt. Offiziere, die ihnen über den Weg laufen, werden entwaffnet; die Aufständischen reißen ihnen Kokarden und Schulterstücke von den Uniformen. Kein Zweifel: Für diese Männer ist der Krieg vorbei, und mit der alten Ordnung machen sie kurzen Prozess.
Im Neuen Rathaus nimmt man diese Vorgänge mit Sorge zur Kenntnis. Der junge LVZ-Redakteur und USPD-Politiker Curt Geyer hört, vermittelt durch eine Genossin, die als Telefonistin in der Fernsprechvermittlungs-Anstalt im Hauptpostamt arbeitet, heimlich ein Telefongespräch mit, das Oberbürgermeister Karl Rothe mit dem kommandierenden General der Leipziger Garnison führt. Rothe fürchtet eine Erstürmung des Rathauses und bittet um militärischen Schutz; seiner Wachmannschaft vertraue er nicht. Der General schlägt ihm die Bitte glatt ab; er könne sich auf seine Truppen selbst nicht mehr verlassen: »Ich kann Ihnen nicht raten, Herr Oberbürgermeister, Sie müssen Ihre eigenen Entschlüsse fassen und sehen, wie Sie durch die Situation hindurchfinden.« Noch bevor es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung gekommen war, hatte die Obrigkeit die Waffen gestreckt. Die Macht lag auf der Straße.
Oberbürgermeister Rothe hat sich – vorerst – umsonst gesorgt. Die Revolutionäre lassen das Neue Rathaus (das damals tatsächlich neu war; es war erst 1905 fertiggestellt worden) links liegen. Stattdessen ziehen sie zum Volkshaus in der damaligen Zeitzer Straße, wo sie gegen 11 Uhr ankommen. Dorthin eilen nun Geyer und seine Genossen von der USPD, die er per Telefon über den Ausbruch der Revolution informiert hat.
[caption id="attachment_71503" align="alignnone" width="320"] Am Volkshaus, 8.11. 1918: Revolutionäre mit erbeuteten Minenwaffen. Diese Aufnahme diente während des Kapp-Putsches als Rechtfertigung für die Zerstörung des Volkshauses am 19.3.1920[/caption]
Das Volkshaus ist das Hauptquartier der Arbeiterbewegung in Leipzig, hier sind Gewerkschaften und die Parteiorganisation untergebracht. Leipzig gilt als Wiege der deutschen Arbeiterbewegung. Hier hat 1863 Ferdinand Lassalle den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« gegründet, aus der die SPD hervorging. Legenden wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht haben in Leipzig gewirkt; Wilhelms Sohn Karl Liebknecht ist geborener Leipziger. Wo, wenn nicht hier sollte die sozialistische Revolution ausgerufen werden? Später tagte der Arbeiter- und Soldatenrat allerdings im Neuen Rathaus, bevor er im Dezember in die Harkortstraße 3 umzog, in das ehemalige »Haus der deutschen Handlungsgehilfen«. Der Verband deutscher Handlungsgehilfen war gerade in den repräsentativen Neubau in der Zeitzer Straße, heute Karl-Liebknecht-Straße 8-12, umgezogen.
Als Geyer im Volkshaus eintrifft, ist Richard Lipinski, der Führer der Leipziger USPD, schon da. Auch er ist vom spontanen Ausbruch der Revolution überrascht worden.
Dass die Revolution kommen würde, damit hatten die Genossen fest gerechnet. Die Leipziger USPD hatte die Machtübernahme sogar bis in jede Einzelheit vorbereitet. Aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Dabei hatte es bereits im Mai 1916 infolge der extremen Nahrungsmittelknappheit die »Butterkrawalle« gegeben; in den Arbeitervierteln Lindenau und Plagwitz, aber auch in Leutzsch, Volkmarsdorf und Sellerhausen waren Geschäfte geplündert worden. Die Polizei hatte die Lage nur mit Mühe unter Kontrolle gebracht. Doch im Laufe des Jahres 1918 schien die revolutionäre Stimmung verflogen zu sein. »Es war eine merkwürdige Lage«, schreibt Curt Geyer in seinen Erinnerungen. »Es war ganz offensichtlich eine vorrevolutionäre Situation – aber die Leute, die sie zu einer revolutionären verwandeln sollten, mussten mühevoll zum Verständnis der Situation gebracht werden.« Um die Revolution auszulösen, bedurfte es der aufständischen Matrosen. Immerhin: Nun war sie da, und die USPD packte die Gelegenheit beim Schopfe. Und zwar in Gestalt von Richard Lipinski. Der USPD-Führer nimmt die Soldaten sogleich durch einen mitreißendenden Redeauftritt für sich ein.
[caption id="attachment_71504" align="alignnone" width="320"] Mehr als 100.000 feiern die Revolution: Blick auf den Augustusplatz und das Museum der bildenden Künste im Hintergrund[/caption]
Lipinski muss eine imponierende Persönlichkeit gewesen sein mit einer beträchtlichen Überzeugungskraft. Im bürgerlichen Beruf betrieb er einen gutgehenden Theater- und Musikalienverlag in der Königstraße (heute Goldschmidtstraße), der auch »Sommerfest-, Scherz- und Karnevalsartikel« – außerdem politische Postkarten und allerlei sozialistische Devotionalien – im Angebot hatte. Lipinski war viele Jahre Vorsitzender des SPD-Bezirks Leipzig gewesen. 1917 hatte er sich der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) angeschlossen, die sich im selben Jahr von der SPD abgespalten hatte, weil ihre Mitglieder die Burgfriedenpolitik der Partei nicht mehr mittragen wollten und im Reichstag gegen Kriegskredite gestimmt hatten. Lipinski hatte dafür gesorgt, dass die Leipziger SPD nahezu geschlossen in die USPD eintrat. Darum war, anders als in Chemnitz, Dresden und anderen sächsischen Städten, in Leipzig die mächtige SPD von der Bildfläche so gut wie verschwunden.
Den SPD-typischen Hang zum Bürokratismus hatte die Leipziger USPD indes nicht abgelegt: Die Genossen erstellen eine Tagesordnung, die sie nun in einem schummerigen Hinterzimmer des Volkshauses Punkt für Punkt abarbeiten. Ein provisorischer Arbeiterrat wird bestimmt, an dessen Spitze Lipinski und Geyer treten. Am Abend vereinigt sich der Arbeiter- mit dem Soldatenrat. Als dessen Repräsentant betritt ein gewisser Erich Geschwandtner die Szene, ein, wie sich Geyer erinnert, etwa Dreißigjähriger »mit kühnem Bart und wirrem, dunklem Schopf«, bewaffnet war er mit einem riesigen Kavallerieschleppsäbel. Für solche abenteuerliche Figuren hat man jedoch bei einer ordentlichen Revolution keine Verwendung. Keine zwei Wochen später wird Geschwandtner wegen irgendeiner undurchsichtigen Geschichte seines Postens enthoben.
Etwa um 14 Uhr ziehen die Revolutionäre weiter über die Südstraße (südlicher Abschnitt der heutigen Karli ab Körnerstraße) nach Connewitz, um sich mit Kameraden zu vereinigen, die dort in Massenquartieren untergebracht sind, nicht nur in Kasernen, sondern auch in der »Goldenen Krone«, im »Eiskeller« und anderen Lokalen. Zurück geht es unter großem Hallo mit neun gekaperten Straßenbahnen.
Ganz so geräuschlos, wie später manchmal behauptet wurde, ist das Leipziger Revolutionsgeschehen wohl doch nicht abgelaufen. Derweil haben sich die Revolutionäre nämlich aus den Kasernen mit Waffen und Munition versorgt. In seiner Autobiografie »Mein blaues Wunder« erzählt der Satiriker Hans Reimann: »Draußen knatterten Schüsse. [...] In der Südstraße war der Teufel los. Eine wüste Schießerei. Maschinengewehre, Handgranaten, Revolver.« Die Ordnungskräfte schreiten nicht dagegen ein. »In Leipzig ist keine uniformierte Polizei zu sehen«, schreibt der Connewitzer Gendarmerie-Inspektor Krause in seinem Bericht an die Königliche Gendarmerie-Direktion in Dresden. Niemand verteidigt den alten Staatsapparat. Allein Oberbürgermeister Rothe versteht sich nur unter massiven Drohungen dazu, dem Hausmeister zu befehlen, auf dem Turm des Neuen Rathauses die rote Fahne zu hissen.
[caption id="attachment_71507" align="alignnone" width="320"] Erste Opfer: Zeichnung der Aufbahrung der toten Revolutionäre vom Leutzscher Bahnhof in der Turnhalle Meßplatz (heute Standort Arena Leipzig)[/caption]
Inzwischen wehen auch über dem Hauptbahnhof und der Kreishauptmannschaft am Roßplatz die Flaggen der Revolution. Die Nachricht vom Umsturz verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. In mehreren Kasernen entwaffnen die Mannschaften ihre Offiziere. Das Generalkommando des XIX. Armeekorps in der Döllnitzer Straße (heute Lumumbastraße) übergibt ohne Weiteres die Kommandogewalt an die USPD-Parteileitung. Die Revolutionäre besetzen die Hauptpost, das Telefon- und Telegrafenamt sowie das Königliche Polizeiamt in der Wächterstraße. Die konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten im Peterssteinweg werden ebenfalls besetzt. Um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, wird eine »Sicherheitswehr« aus revolutionären Soldaten geschaffen. Den Kern bildet eine Kompanie Matrosen, die sich bald durch ihr energisches Durchgreifen einen Namen als harte USPD-Parteitruppe macht.
Am Abend halten die Soldaten im Hauptbahnhof eine große Versammlung ab. Die bisherige Bilanz der Revolution kann sich sehen lassen. Nicht nur in Leipzig. Inzwischen ist bekannt geworden, dass am Vortag der USPD-Politiker Kurt Eisner in München den König abgesetzt und Bayern zum Freistaat erklärt hat. Die Sachsen tun es den Bayern bald nach: Am 8. November überschlagen sich auch in Dresden die Ereignisse. Als die tobende Menge droht, das Residenzschloss zu stürmen, verschwindet Friedrich August III. klammheimlich durch eine Hintertür und lässt sich mit dem Automobil nach Moritzburg chauffieren. Am 11. November dankt der »Geenich« ab. Mehr als 800 Jahre haben die Wettiner über Sachsen geherrscht. Jetzt weht über ihrer Residenz die rote Flagge.
[caption id="attachment_71508" align="alignnone" width="320"] Karl-Liebknecht-Straße, 2018: Das Volkshaus (vorn) und das Haus der Handlungsgehilfen (hinten, mit Kuppel) waren zentrale Orte der Revolution[/caption]
Zur Absicherung und Fortführung der Revolution ruft der Arbeiter- und Soldatenrat die Leipziger Arbeiter zu einem dreitägigen Streik auf. Vor allem die Großbetriebe folgen dem Aufruf. Am 10. November findet auf dem Augustusplatz eine Kundgebung der USPD statt; hunderttausend Menschen sollen daran teilgenommen haben. Die USPD-Führer ermahnen die Massen zur Disziplin, und tatsächlich verläuft die Mega-Veranstaltung weitgehend friedlich. Der USPD-Vorsitzende Johann Friedrich Seger, wie Geyer und die meisten USPD-Führer Redakteur bei der LVZ, verkündet in seiner Rede, zur Stunde fänden auch in Großbritannien und Frankreich Matrosenaufstände statt – ein untrügliches Zeichen für den Ausbruch der Weltrevolution!
Am 12. November gehen die Leipziger wieder zur Arbeit.
Tatsächlich änderte sich im Leben der meisten Leipziger zunächst wenig. Der 8-Stunden-Tag, die älteste Forderung der Arbeiterbewegung überhaupt, wurde eingeführt. Der Arbeiter- und Soldatenrat ordnete an, dass Arbeiter bis auf Weiteres nicht entlassen werden durften. Doch die Privatwirtschaft blieb vorerst unangetastet. Und auch der Behördenapparat arbeitete weiter, Oberbürgermeister Rothe blieb im Amt. Der alte Fuchs nutzte gnadenlos aus, dass die Arbeiter und Soldaten, die ihn kontrollieren sollten, von verwaltungstechnischen Dingen natürlich keine Ahnung hatten. Und so schaltete und waltete der Stadtrat mehr oder weniger unbehelligt weiter wie bisher. Später wurde es der Revolution als entscheidender Fehler vorgeworfen, das Ratskollegium in seiner Stellung belassen zu haben. Aber was hätten sie tun sollen? Die Revolutionäre verfügten schlicht nicht über das kompetente Personal, das nötig war, um die damals viertgrößte Stadt Deutschlands zu regieren.
Außerdem plagten die Genossen ganz andere Sorgen: Noch immer hatten die Menschen nicht genug zu essen. Nach wie vor, selbst nach dem Waffenstillstand vom 11. November, hielten die Briten ihre Seeblockade aufrecht. Und der Winter stand bevor. Am 10. Dezember kündigte die LVZ an, dass die Wochenration an Kartoffeln von sieben auf fünf Pfund herabgesetzt werde. Es fehlte auch an Fett, Milch und Heizmitteln.
Außerdem waren längst nicht alle Leipziger begeisterte Anhänger der Revolution, vor allem nicht das Bürgertum. Das hatte bald seine Schockstarre überwunden und sein altes Selbstbewusstsein wiedergewonnen. Besonders die Studentenschaft, damals in ihrer großen Mehrheit männlich, bürgerlich und stramm nationalistisch, machte aus ihrer Verachtung der proletarischen Revolution keinen Hehl. Zur Begrüßung heimkehrender Fronttruppen hatte der Arbeiter- und Soldatenrat angeordnet, am 26. November auf den öffentlichen Gebäuden rote Flaggen zu hissen. In einer nächtlichen Aktion holten Studenten das Symbol der Arbeiterbewegung vom Augusteum und zogen stattdessen die grün-weiße Flagge des Königreichs auf. Anderntags wurden die Täter verhaftet. Aber etwa fünfhundert Studenten befreiten die Kommilitonen mit Gewalt aus ihren Zellen in der Wächterstraße. Die Polizei konnte oder wollte gegen die Übermacht nichts ausrichten. In Leipzig brodelte es.
Und nicht nur hier. Am 29. Dezember zerbrach in der Hauptstadt die Koalitionsregierung aus Mehrheits-SPD und USPD. Am Tag darauf trennte sich die linksradikale »Spartakusgruppe« unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht endgültig von der USPD und konstituierte sich als Kommunistische Partei (KPD). Anfang Januar 1919 eskalierte in Berlin die Situation. Arbeiter wollten mit Massenkundgebung die ursprünglichen Ziele ihrer Revolution durchsetzen. Vom 9. bis zum 12. Januar ließ die SPD-Regierung die zweite Welle der Revolution zusammenschießen.
Diese zweite Erhebung der Arbeiter wird oft als »Spartakusaufstand« bezeichnet, dabei hatte die KPD sie weder geplant noch angeführt. Auch in Leipzig hat die KPD am revolutionären Geschehen so gut wie keinen Anteil gehabt. Umso mehr haben sich DDR-Historiker bemüht, »Spartakusgenossen« wie Georg Schumann, Alfred Kästner, William Zipperer und andere als treibende Kräfte der Revolution darzustellen. Übrigens hat sich damals in Leipzig auch ein gewisser Walter Ulbricht in den Soldatenrat wählen lassen. Allerdings ist der zukünftige Erste Sekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR wohl erst 1920 in die KPD eingetreten.
Jedenfalls bekannte sich der Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat zu den Berliner Aufständischen und verfügte aus Solidarität mit den Genossen, keine Militärtransporte nach Berlin durchzulassen. Als am 9. Januar Regierungstruppen aus Süddeutschland in den Bahnhof Leutzsch einfuhren, wurde ihnen dementsprechend die Weiterfahrt verweigert. Es kam zu einem heftigen Schusswechsel mit der Leipziger Sicherheitswehr. Vier Soldaten und zwei Männer der USPD-Truppe wurden dabei erschossen. Die Leipziger Räterepublik hatte ihre ersten Märtyrer.
Die Nachricht von Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Ermordung am 15. Januar traf auch die Leipziger wie ein Donnerschlag. Spontan strömten unüberschaubare Menschenmassen auf den Augustusplatz, wiederum sollen es hunderttausend gewesen sein. Der Verkehr war lahmgelegt; Strom- und Wasserversorgung fielen aus, weil Elektrizitäts- und Wasserwerk die Arbeit einstellten. In der Stadt herrschte Endzeitstimmung. Seit November hatten sich die Lebensverhältnisse noch einmal wesentlich verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit war hochgeschnellt, dafür die wöchentliche Kartoffelration auf unfassbare zwei Pfund pro Person gesunken. Kohle war so knapp, dass sie nicht einmal zum Kochen, geschweige denn zum Heizen reichte. Das Wirtschaftsleben stand unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Gleichzeitig streute die rechte Presse Horrormeldungen über Todeslisten, Geiselnahmen und linksradikale Gewaltexzesse.
Die USPD-Regierung bemühte sich tapfer um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Als »Realos« hatten sie bisher eine deeskalierende Politik betrieben. Aber die Partei steckte in der Zwickmühle: Im Reich und in Sachsen hatte die SPD das Sagen, und die betrachtete das Rätesystem allenfalls als Übergangslösung. Sie wartete nur auf einen Anlass, die Leipziger Räteherrschaft auszuschalten. Zugleich machte sich nun doch die linke Konkurrenz von der KPD bemerkbar.
Unter dem Eindruck der Januarkämpfe in Berlin forderten nun auch die Leipziger Arbeiter eine Betriebskontrolle durch die Räte und eine Sozialisierung der Wirtschaft. Um diese Forderungen durchzusetzen, beschloss am 26. Februar der Arbeiter- und Soldatenrat den Generalstreik: Züge fuhren nicht, die Straßenbahnen blieben in ihren Depots. Abermals gab es keinen Strom, kein Gas, Telefon und Telegrafen blieben tot. Dafür wurden die Banken besetzt und Wohnungen und Geschäfte nach gehamsterten Lebensmitteln durchsucht.
Das Leipziger Bürgertum bangte nun ernstlich um seinen Besitz – und ging zum Gegenangriff über. Interessanterweise wendete die Bourgeoisie dabei altbewährte Methoden des proletarischen Klassenkampfes an: Die Bürger streikten nun ihrerseits.
Der Bürgerstreik war generalstabsmäßig organisiert und äußerst wirkungsvoll: Apotheker, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Beamte, aber auch viele Handwerker stellten ihre Arbeit ein. Und die Bürger hatten den längeren Atem. Während den streikenden Arbeitern die Löhne vorenthalten wurden, bezahlte die Stadtverwaltung ihren Beamten die Gehälter vorzeitig. Die USPD griff zu drastischen Maßnahmen: Um die Löhne der Streikenden und die Arbeitslosenhilfe bezahlen zu können, wurde Oberbürgermeister Rothe mit vorgehaltener Waffe zu einer Anweisung über 400.000 Mark gezwungen. Doch die Streikfront bröckelte bald. Am 10. März beschloss der Arbeiter- und Soldatenrat den Abbruch. Die Revolution hatte eine empfindliche Schlappe erlitten.
Ohnehin waren die Tage der Räteherrschaft gezählt. Im März 1919 ordnete die Reichsregierung an, die Räte aufzulösen, notfalls mit militärischer Gewalt. Bereits im Februar waren die Arbeiter- und Soldatenräte in Gotha, Eisenach und Erfurt ausgeschaltet worden. Im März war Halle »befreit« worden, im April Magdeburg, danach Braunschweig. Leipzig war die letzte Bastion der Rätemacht in Deutschland. Und die Einschläge kamen näher. Doch noch war es nicht so weit. Auch weil Ende April die erste »Friedensmesse« bevorstand. Sie verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sogar der 1. Mai, der Kampftag der Arbeiter, lief, trotz Verbot aller öffentlichen Versammlungen, ruhig ab. Aber es war die Ruhe vor dem Sturm.
[caption id="attachment_71509" align="alignnone" width="320"] Connewitz, 2018: Das Lokal Goldene Krone in der Wolfgang-Heinze-Straße[/caption]
Einen Anlass, auch in Leipzig zu intervenieren, bot ein Lynchmord in Dresden. Am 12. April hatten wütende Demonstranten den sächsischen Minister für das Militärwesen, Gustav Neuring, von einer Brücke in die Elbe geworfen und ihn beim Versuch, ans Ufer zu schwimmen, erschossen. Sofort rief die Landesregierung für ganz Sachsen den Belagerungszustand aus. Damit herrschte Standrecht, die Presse- und Versammlungsfreiheit war aufgehoben. Der Leipziger Arbeiterrat ließ darauf in der LVZ verlauten: »In Leipzig herrscht Ruhe und Ordnung. Der Belagerungszustand in Leipzig ist überflüssig.« Aber das interessierte in Dresden und Berlin niemanden.
Mit der »Befreiung« Leipzigs wurde ein ausgewiesener Fachmann betraut: Generalmajor Georg Ludwig Rudolf Maercker, »der Städtebezwinger«. Mit Drohungen und Gewalt hatte der hochdekorierte Weltkriegsoffizier reihenweise Räteherrschaften entwaffnet und aufgelöst, zuletzt in Magdeburg und Braunschweig. Nun sollte er auch Leipzig zur Raison bringen.
Maercker überließ nichts dem Zufall. In den Morgenstunden des 11. Mai, einem Sonntag, begann der Einmarsch. Wie viele Soldaten an der Aktion beteiligt waren, lässt sich wegen der stark schwankenden Personalbestände der Einheiten in dieser Zeit nicht genau bestimmen. Hermann Liebmann, damals Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates, spricht in seinen Erinnerungen von 20.000 Mann. Jedenfalls verfügen die Invasionstruppen über schwere Waffen, darunter eine »Panzer-Kampfwagen-Abteilung«, zu der auch Hedi gehörte, der letzte den deutschen Streitkräften verbliebene Sturmpanzerwagen A7V. Es war Hedis letzter Einsatz, ab dem 28. Juni 1919 durfte laut Versailler Vertrag das Deutsche Reich keine Panzer mehr besitzen. Noch vor 7 Uhr warfen Flieger Flugblätter ab, die den Einmarsch verkündeten und vor Widerstand warnten. Die Truppen fuhren mit drei gepanzerten Zügen gleichzeitig in die Bahnhöfe der Stadt ein und besetzten die Innenstadt. Auf dem Augustusplatz wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Patrouillen durchstreiften die Straßen. Nur westlich der Elster, in den Arbeitervierteln Plagwitz, Lindenau und Leutzsch, ließ sich vorerst kein Regierungssoldat blicken, um keinen bewaffneten Widerstand zu provozieren. Unterdessen rückte immer mehr Verstärkung, auch schwere Artillerie, Granatwerfer, sogar Kavallerie, in die Stadt ein.
Die Leipziger Räteregierung war vollkommen überrascht und hatte dem nichts entgegenzusetzen. Man hatte sich noch nicht einmal auf einen Plan einigen können, was im Falle einer Invasion zu tun sei. Die Sicherheitswehr kapitulierte umgehend; größere Streikaktionen blieben aus. Die führenden Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates sowie der USPD wurden verhaftet. Der »Große Arbeiterrat« wurde offiziell aufgelöst. Damit war die Räteherrschaft in Leipzig vollständig niedergeschlagen.
Zum Abschluss seines siegreichen Feldzuges ließ Maercker am 18. Mai eine Parade abhalten, und zwar nicht auf dem Augustusplatz, sondern im Albertpark (heute Teil des Clara-Zetkin-Parks), vermutlich auf der heutigen Anton-Bruckner-Allee. »Das militärische Schaustück«, schrieb am folgenden Montag die LVZ, »hatte den Zweck, der Bevölkerung die gesamten militärischen Machtmittel vor Augen zu führen.«
Im Anzeigenteil derselben Ausgabe wird vermeldet, dass im Zoo neuerdings Stabheuschrecken zu sehen seien. Im Theater Lindenfels wird am Abend das »spannungsvolle Drama« »Späte Rache« gegeben.