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Kultur

Verrat an den Figuren

Eine unterirdische »Carmen« eröffnet den großen Oper-Abverkauf

  Verrat an den Figuren | Eine unterirdische »Carmen« eröffnet den großen Oper-Abverkauf

Eine Carmen, die sich ständig einen Wolf spielt. Ein Ensemble, das ihr kein angemessenes Feedback gibt. Ein Torero Escamillo, der wie ein bayerischer Bierkutscher rüberkommt. Wo ist hier die Regie, fragt sich kreuzer-Autor Stefan Petraschewsky. Sein Fazit: Die Oper hat mit der Inszenierung der »Carmen« einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Nach der Premiere der »Carmen« bleiben vor allem Fragen: Wo ist hier die Regie, wenn es zum Finale nur für einen peinlich schunkelnden oder im Kreis herumlaufenden Chor reicht? Welche Haltung zum Geschehen soll das zeigen? Wo ist die Regie, wenn ein Bühnenbild per überlang ausgereiztem 3-D-Lichteffekt eine Felslandschaft imaginieren will, in der Schmuggler so aussehen, wie wir es uns im 08/15-Modus vorstellen: Leder- oder Fellmantel, unrasiert mit Schlapphut und Karabiner im Anschlag? Wo ist die Regie, wenn das Bühnenbild zudem Blut behauptet, das knietief durch die Straßen rinnt, an Wänden, Tischen und Stühlen kleben bleibt, dieser Vorgang weder einmal gezeigt noch an ihn erinnert wird? Warum spielt sich eine schauspielerisch und gesanglich sehr begabte Wallis Giunta als Carmen ständig einen Wolf, bekommt aber kaum adäquates Feedback vom Rest des Ensembles? Speziell vom Torrero Escamillo, der – rollentechnisch und musikalisch – als schnaubender Stier und Superdraufgänger angelegt ist, aber mehr als bayerischer Bierkutscher rüberkommt? Und warum sonnt und dreht sich Carmen eitel im Scheinwerferspot, darf aber ihren Schatten nicht bemerken, den sie an die Wände wirft, und mit ihm spielen, kurz bevor Don José sie dann erschießen wird?

Man kann sich die Sache nur so zusammenreimen, dass Lindy Hume ihre Regie-Augen beim Pförtner am Bühneneingang abgegeben haben muss. Anders ist diese Zombie-Musiktheater-Ästhetik nicht zu erklären, die auf altbekannte, kitschige Bilder zu setzen sucht und dabei die Figuren verrät. Die Oper Leipzig hat mit dieser Inszenierung ihren neuen Tiefpunkt erreicht.

Um es recht zu verstehen: Die Leipziger »Carmen« von Tatjana Gürbaca (2009) war ebenfalls ein Desaster, weil die Inszenierung oberlehrerhaft auf alle möglichen gesellschaftlichen Missstände hinwies, was überfrachtet und willkürlich wirkte. Und was Intendant Ulf Schirmer dann als Aufgabe von der Stadt gestellt bekam, nämlich die Oper jenseits eines überambitionierten Regietheaters einem breiten Publikum zu öffnen, hat er mit Inszenierungen wie »Butterfly«, »Salome«, »Don Carlo« und »Rigoletto« eingelöst. Vor allem deshalb, weil hier die Musik nicht beiseite geschoben, sondern tonangebend für Regie und Handlung war. Allerdings gab es auch Ausreißer nach unten: »Rusalka«, »Tosca« beispielsweise, wo zu viel auf Fassade und zu wenig auf schlüssige Interpretation geachtet wurde.

Und jetzt diese verstaubt aufgestylte »Carmen«. Warum zeigt die Oper nach den Jahren der Stabilisierung nicht mehr Mut? Die Stadtbevölkerung ist seit der Jahrtausendwende von etwa 450.000 auf knapp 600.000 Einwohner gestiegen – 25 Prozent Zuwachs. Die Arbeitslosenquote ist im gleichen Zeitraum von knapp 20 auf 7 Prozent gefallen. Mit anderen Worten: Weil es potenziell mehr Zuschauer gibt, die sich Kultur wieder leisten können, verträgt die Boomtown mehr Wagemut im Opernbetrieb. Das betrifft Regiehandschriften und die Spielzeitplanung generell, die derzeit ziemlich beliebig wirkt. Und wenn es das Endziel Ulf Schirmers ist, 2022 alle Werke Wagners aufzuführen, dann ist das noch kein Wert an sich. Eher das Einspannen des Apparates für ein gedrechseltes Ziel. Oder kann es wirklich das Interesse der die Oper finanzierenden Bürgerschaft sein, alles auf die eine Karte Wagner zu setzen – auf ein paar Freaks, die dann, 2022, nicht nur nach Bayreuth, sondern auch nach Leipzig reisen? Oper in Monokultur, gedacht für die Tourismusbranche.

»Alles muss raus« und »großer Abverkauf« – so kündeten Plakate hinter den Karstadt-Schaufenstern. Könnte sich an der Oper ein ähnlicher Effekt einstellen? Olena Tokar singt eine erwachsen wirkende Micaëla und entgeht so dem Klischee des naiven Mädchens: toll! Leonardo Chaimi, offenbar indisponiert, weil er die Töne etwas zu tief ansetzt, überzeugt trotzdem mit zu Herzen gehenden Arien. Und Wallis Giunta ist eine Sängerdarstellerin, von der ich gerne mehr gesehen hätte, wenn es die Regie vermocht hätte, ihr entsprechend Futter zu geben. Großartige Engagements trotz widriger Umstände: Vielleicht will alles raus?


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