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Stadtleben

»Danger, Danger!« – Part IV: Danger on Railroadroad

kreuzer-Reporter an den »gefährlichen Orten« der Stadt: Eisenbahnstraße

  »Danger, Danger!« – Part IV: Danger on Railroadroad | kreuzer-Reporter an den »gefährlichen Orten« der Stadt: Eisenbahnstraße

Laut aktueller Gesetzeslage darf die sächsische Polizei nach eigenem Ermessen »gefährliche Orte« deklarieren, an denen Personen ohne konkreten Verdacht durchsucht werden dürfen. Aus welchen Gründen wann und wo kontrolliert werden darf, entscheidet die Polizei selbst, Parlamentarier beklagen fehlende Überprüfungsmöglichkeiten. Der kreuzer hat sich an den »gefährlichen Orten« in Leipzig umgesehen.

Die Exkursion in das »Gefahrengebiet Eisenbahnstraße« beginnt an einem Samstagabend. Es ist ein besonderes Wochenende: das letzte, bevor sich hier alles ändern soll. »Eisenbahnstraße endlich entschärft!«, wird die Bild zwei Tage später titeln. Nachdem 2013 ein Iraker auf zwei Mazedonier geschossen hatte, erhoben Boulevardmedien die »Eisi« zur »gefährlichsten Straße Deutschlands«. Immer wieder gerieten dort Gangs aneinander, im Juni 2016 erschoss ein Mitglied der Hells Angels einen Konkurrenten. LVZ-Leser berichten immer wieder, dass sie bei der Durchfahrt mit dem eigenen PKW grundsätzlich die Autotüren von innen verriegeln. Ab Montag wird das Gebiet, das ich erkunde, zur ersten »Waffenverbotszone« Sachsens. Und am Ende dieses Abends auf der Eisenbahnstraße kam mir ein verrückter Gedanke: Haben die Leute vielleicht mehr Angst vor mir als ich vor ihnen? Hinweise darauf gab es.

Doch der Reihe nach: Der Samstagabend beginnt und ich trage weder Messer noch Pfefferspray bei mir. Zugegeben, Letzteres habe ich tatsächlich kurz in Betracht gezogen. Die letzten drei Jahre habe ich direkt um die Ecke gearbeitet, nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem 2016 die tödlichen Schüsse fielen. Trotzdem steigt in mir das Unbehagen mit jedem Meter, den ich meinem Ziel näher komme. Eisenbahnstraße! Ich beschließe, mich vorsichtig an die Sache heranzuwagen und die Straße erst einmal langsam mit dem Fahrrad abzufahren.

Vom Friedrich-List-Platz aus kommend, erreiche ich die berüchtigte Magistrale. Vor mir radelt ein junges Paar. Sie fahren nebeneinander, unterhalten sich, während sie auf den Radstreifen der Eisenbahnstraße abbiegen. Angst sieht anders aus. Ob sie wissen, wo sie sich gerade befinden? In der LVZ beklagte sich wenige Tage zuvor eine Anwohnerin über junge Männer mit glasigem Blick und Ecken, in die man sich kaum noch traue. Im Schritttempo rolle ich am Rabet vorbei. An den Rändern des Parks stehen Menschen, mal alleine, mal in kleineren Gruppen. Ihre Augen sind in der Dunkelheit nicht zu erkennen, sie scheinen mit sich selbst beschäftigt. Eine Szenerie, an der ich keineswegs zum ersten Mal vorbeirolle, seitdem ich in Leipzig lebe.

Wenn ich das Besondere von dem erfassen will, was ich schon so oft erlebt habe, muss ich näher ran, merke ich. Ich lasse das Fahrrad stehen, gehe zu Fuß weiter. Vorbei an den Männern auf der Straße. Mit mir reden wollen sie nicht, Drogen bietet mir aber auch keiner von ihnen an. Manche von ihnen sind so ins Gespräch vertieft, dass sie mich nicht zu bemerken scheinen. Vielleicht ignorieren sie mich auch einfach.

An der Haltestelle auf der anderen Straßenseite stehen vier junge Menschen, die keine Angst haben, sich mit mir zu unterhalten. Auch sie empfinden die Eisenbahnstraße alles andere als bedrohlich. Sie sind zu Besuch in Leipzig, erzählen sie, eine Freundin wohnt nur ein paar Meter weiter. Ich frage, ob sie bewaffnet sind, schließlich sei das heute ihre letzte Chance. Sie müssen lachen. Nein, Waffen hätten sie nicht dabei, auch wenn sie natürlich gehört haben, wie gefährlich diese Gegend sein soll. »Hier sind doch jede Menge Menschen unterwegs«, führt Tobias aus, der aus Tübingen kommt. »Ich denke, dass man sich in belebten Ecken generell sicherer fühlt.«

Nicht ganz so eindeutig fällt das Urteil von Laura aus, die neben ihm steht und erklärt, sie fühle sich hier schon manchmal ein bisschen weniger wohl als an anderen Orten. Während wir uns auf dem schmalen Gehweg neben der Haltestelle unterhalten, zieht eine Männergruppe rechts und links an uns vorbei. Obwohl gar nichts passiert ist, gibt Laura zu, dass es genau solche Situationen sind, die bedrohlich auf sie wirken. Auch ich verspüre ein komisches Bauchgefühl. Warum eigentlich?

Ich gehe weiter, vorbei an einem Polizeiauto, in dem niemand sitzt. An der nächsten Straßenecke kommen mir zwei Jugendliche entgegengerannt. »Mach wie Ali! Rechts, links, oben, unten«, ruft der hintere von ihnen, während er mit seinen Fäusten in die Luft boxt. Seine Bewegungen verraten, dass er vom Boxen in der Praxis genauso wenig versteht wie in der Theorie. Bedrohlich wirkt das nicht; weder auf mich noch auf all die Menschen, die in dem Moment aus der Bahn strömen. Auch Kulturapotheke und Goldhorn sind gefüllt mit Menschen, die trinken, lachen und keinerlei Anzeichen von Angst zeigen. Ich denke an Tobias’ Worte über belebte Ecken. Ist Sicherheit ein Zustand oder ein Gefühl, frage ich mich? Überall vor den Cocktailbars und Kneipen stehen Paare und kleine Menschengruppen. Sie jetzt anzusprechen, käme einem Eindringen in ihre privatesten Bereiche gleich, denke ich.

Zwischenzeitlich fühlt es sich an, als sei ich hier die Bedrohung. Ein Paar trägt ein Baby quer über die Straße, mustert mich kurz, bevor der Mann die Haustür neben mir aufschließt. Als ich kurz darauf mit wenigen Metern Abstand hinter einem jungen Typen hergehe, zieht er merklich das Tempo an. Fühlt sich also doch jemand unsicher in der Eisenbahnstraße? Aber meinetwegen? An der nächsten Straßenecke blickt er sich kurz um, steigt auf sein Fahrrad und fährt pfeifend davon. Ich bleibe unschlüssig zurück.

Auf dem Heimweg durch menschenleere Straßen wird mir bewusst, dass die meisten Vorfälle in der Eisenbahnstraße, die ich aus alten Zeitungsberichten rekonstruiert habe, am helllichten Tag passiert sind. Also mache ich mich wenige Tage später erneut auf den Weg, diesmal zur Mittagszeit. Die Sonne bricht sich an den gelben Schildern, die mittlerweile ihre Botschaft verkünden: »Waffen verboten!«

Erneut laufe ich die gesamte Straße ab, die tagsüber noch deutlich belebter wirkt. Am Ende der neu eingerichteten Zone nehme ich vor einem Imbiss Platz. Hat sich mein Sicherheitsgefühl verändert? Nach zwei Ausflügen in ein Gefahrengebiet, in dem täglich Menschen wie ich unterwegs sind? In dem ich manchmal täglich unterwegs war? Ein Handwerker läuft an mir vorbei, aus dem Eimer in seiner Hand ragt ein Meißel. Wenige Meter von uns entfernt steht eins der neuen Schilder. Ab dort würde er Probleme bekommen, wenn er solche gefährlichen Gegenstände offen transportiert. Kurz davor biegt er in einen Hauseingang, ein Polizeiauto fährt stadtauswärts an uns vorbei.


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