Laut aktueller Gesetzeslage darf die sächsische Polizei nach eigenem Ermessen »gefährliche Orte« deklarieren, an denen Personen ohne konkreten Verdacht durchsucht werden dürfen. Aus welchen Gründen wann und wo kontrolliert werden darf, entscheidet die Polizei selbst, Parlamentarier beklagen fehlende Überprüfungsmöglichkeiten. Der kreuzer hat sich an den »gefährlichen Orten« in Leipzig umgesehen.
Die Polizei sehe ich nur einmal in einem Einsatzfahrzeug an der roten Ampel. Im letzten Sommer stuften die Ordnungshüter den westlichen Teil der Zweinaundorfer Straße samt Nebenstraßen als »gefährlichen Ort« ein. Das Innenministerium sprach von einer Verlagerung des Verbrechens von der Eisenbahnstraße und dem Hauptbahnhof hierher. Die Folge sei eine sehr stark gestiegene Straßenkriminalität gewesen, was in erster Linie mehr Körperverletzungen, Eigentumsdelikte und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz bedeutete, worauf mit Schlagringen oder Reizgas ausgetragene Konflikte folgten, die sich um Drogen und das dafür aufzubringende Geld drehten.
Es ist ein vergleichsweise milder Sonnabend, als ich mir das anschauen will. Aus den Fenstern der Gründerzeithäuser grüßen Schwibbögen und Herrnhuter Sterne warm in die Nacht. Vor dem Späti an der Haltestelle Breite Straße stehen Menschentrauben mit Bierflaschen in der Hand und rauchen. Die Grünanlagen liegen still. Es knackt nicht einmal ein Ast im Wind.Die Nebenstraßen sind deutlich weniger belebt. Ein Mann kommt mit einem Hund angeschlendert. Jemand hat in den Rinnstein gekotzt. Ein Leihtransporter biegt um die Ecke. Zwei junge Frauen satteln mit Vorfreude im Gesicht ihre Fahrräder. Drei Typen mit Rucksäcken laufen die Straße hoch, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Sollten sie das Verbrechen repräsentieren, dann tarnen sie es gut hinter dem Eindruck, sie gingen zur WG-Party eines Kumpels. Im Paradise Village
kann man drinnen rauchen und Bier oder Mixgetränke zu sich nehmen, auf mehreren großen Bildschirmen läuft ein Fernsehfilm. Das Publikum gemischten Alters ist nicht zum Fernsehen hier, sondern zum Trinken und Quatschen. Keine fünfzig Meter weiter lehnt eine Plastetüte an der Hauswand, Textilien schauen raus.
Das sieht seltsam aus, reicht aber lange nicht, um meine Alarmglocken schrillen zu lassen. Auch an gefährlichen Orten mit viel Straßenkriminalität können Tüten mit Klamotten eine ganz harmlose Angelegenheit darstellen. Eine Frau mit Hund guckt rüber, ihr Blick bleibt weder an der Tüte noch an mir hängen. Das ist überhaupt so eine Erfahrung während der Recherchen im Viertel: Hier bin ich eine von vielen. Für besonderes Interesse gibt es keinen Grund.An einem Werktag herrscht auf der Zweinaundorfer Straße weitaus mehr Verkehr als Sonnabendnacht. Die Nebenstraßen und Grünflächen sind belebter, die Leute haben Wege und Ziele. In den Seitenstraßen vor allem sind viele junge Mütter mit Kinderwagen und Tragetuch zu sehen. Die Fußwege säumt Hundekacke. Schuhe stehen paarweise neben Hauseingängen. Vielleicht sind sie ebenso zum Mitnehmen gedacht wie die Röhrenfernseher und Nachtschränkchen, die teilweise den Weg versperren. Graffiti fordern »Apfelmus statt Rassismus« und wünschen »Have a Good Day«. Jemand leistet sich eine 24-Stunden-Videoüberwachung, behauptet jedenfalls ein Schild. Aus meinen Beobachtungen auf der Straße wird mir nicht plausibel, wogegen sie helfen sollte.
Zwei Frauen Ende zwanzig sind mit ihren Hunden unterwegs. Sie leben schon einige Zeit im Viertel und konnten Veränderungen beobachten: »Es wohnen viel mehr normale Leute und Studenten hier und die Häuser werden gemacht.« Wer sind denn die nicht-normalen Leute von früher? »Früher war hier alles komplett braun«, gibt die eine zur Antwort. Sie weiß, dass hier für Kriegsfilme und »Als wir träumten« gedreht wurde – jetzt wäre das nicht mehr »authentisch«, die Sanierung hinterlässt ihre Spuren. Bei der anderen jungen Frau haben sie letztens versucht einzubrechen, erzählt sie. Dennoch empfinden sie auf der Straße keine Unsicherheit: »Wir haben noch keine Eisenbahnstraße.« Dafür entwickeln sich die Mieten enorm. Die eine beschreibt es mit dem Dreisatz: »Erst kommen die Punks, dann die Studis, dann die Hipster.« Die beiden freuen sich, dass derzeit »niedliche Lädchen« entstehen, wie sie es nennen.
Zwei Straßen weiter steht ein Mann Anfang vierzig an der Ecke und raucht. Er wohnt erst seit einem halben Jahr hier, davor war er fast zehn Jahre in der
Eisenbahnstraße zu Hause. Dort konnte er beobachten, wie einem Typen in den Kopf geschossen wurde, vor seinem Fenster. Wohl auch deshalb findet er: »Im
Gegensatz zur Eisenbahnstraße ist es hier human.« Er hat durchaus mitbekommen, dass es auf der Zweinaundorfer Straße schon mal Stress gab, ordnet das aber als harmlos ein. Als er seine Kippe wegschnippt, schaut er die Straße hoch, mein Blick folgt ihm. Auf der Zweinaundorfer Straße steht ein Krankenwagen mit Blaulicht.
Ein Paar um die sechzig läuft vorbei. Die Frau kommt nicht zu Wort, weil er sich beeilt, über das Viertel zu sagen: »Ich halte mich da raus.« Und dann doch feststellt: »Für mich ist das hier ä Kanakenviertel.« Er zieht an ihrem Arm und befiehlt: »Komm!« Für mich war das vor allem ein ganz normales Viertel. Die Personen, die phänotypisch bei Leuten wie ihm als »Kanake« durchgehen würden, konnte ich an einer Hand abzählen. Ich wurde nicht bedroht und habe nichts Bedrohliches erlebt. Diese zufällige Beobachtung deckt sich mit der des sächsischen Innenministeriums. Ende Januar gab es von dort eine aktualisierte Version der Liste gefährlicher Orte. Grund war eine Kleine Anfrage der Linken im Landtag zur Entwicklung Ende 2018. Die Zweinaundorfer Straße fehlt darauf. Mag sein, dass Danger-Crottendorf nun Geschichte ist.