»Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt«: Zugegeben: Jorge Luis Borges’ Zitat ist ausgelatscht. Die Stadtbibliothek am Leuschnerplatz beschreibt es aber treffend. Hier im lichten Obergeschoss hat Susanne Metz ihr Büro. Sie ist die Chefin der 15 Stadtteilbibliotheken und der Fahrbibliothek. Im freundlich-sympathischen Gespräch erklärt sie, was passiert ist, seit sie im August 2013 das Amt übernommen hat.
kreuzer: Zu Ihrem Start in Leipzig haben Sie gesagt, noch keinen Nutzerausweis zu besitzen – hat sich das geändert?Susanne Metz: Ja, den habe ich und nutze ihn auch. Ich wohne in Gohlis und habe deshalb Wert darauf gelegt, meine Anmeldung dort in der Stadtteilbibliothek vorzunehmen.
kreuzer: Was liehen Sie als Erstes aus?Metz: Das ist zu lange her. Ich könnte Ihnen aber sagen, was ich als Letztes ausgeliehen habe: ein Buch über die alternde Gesellschaft in Japan, was ein Blick auch auf unsere naheliegende Zukunft ist. Das muss ich zurückgeben, deswegen liegt es da auf dem Tisch. Ich zahle manchmal auch Versäumnisgebühren.
kreuzer: Muss man selbst lesen, um Chefin einer Bibliothek zu sein?Metz: Na ja, E-Mails und Akten schon. Aber nein, muss man nicht. Die Medienauswahl treffen Profis aus dem Kollegium. Bei denen hole ich mir auch mal einen Tipp, weil ich diese Marktübersicht nicht mehr habe. Also an Inhalten sollte Interesse bestehen. In welchem Format sie weitergegeben werden, da bin ich offen und nicht traditionalistisch. Aber ich weiß, wie eine Bibliothek funktionieren soll und wo wir hinwollen.
kreuzer: Bücher müssen nicht aus Papier sein?Metz: Ich lese gerne E-Books, weil sie ausgesprochen praktisch sind. Ich saß vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung, wo es um die Frage ging: Analog oder digital lesen? Es ging nur ein Finger – nämlich meiner – hoch beim Thema digital. Da war
ich echt überrascht. Vor allem jüngere Diskutanten meinten, sie säßen den ganzen
Tag vorm PC, da sei das Lesen eines echten Buches Entspannung. In diesem
Moment hatte ich das Gefühl, dass wir auch eine Art Drogerie oder Apotheke
sind, da Lesen etwas Heilendes hat. Doch es gibt Bücher, die auch ich nicht als
E-Book haben möchte, wenn beispielsweise tolle Abbildungen drin sind.
kreuzer: Wie kamen Sie zum Thema Buch?Metz: Wenn mir jemand im Vorstellungsgespräch sagt, ich lese gerne und daher
bin ich für den Job in der Bibliothek geeignet, kommt das bei mir gewöhnlich nicht so gut an. Bei uns muss man Interesse und Spaß am Arbeiten mit Menschen haben. Nichtsdestotrotz bin ich selbst früh angefixt worden durch Bibliotheken. Ich habe mich sozusagen hochgelesen. Aber das ist nicht der Grund, warum ich in dem Job gelandet bin. Ich habe Geschichte studiert und wollte eher in Richtung Journalismus gehen. Dann hatte ich einen Studentenjob in einer Spezialbibliothek für chinesische Literatur. Dass da ständig Menschen kamen, mich etwas gefragt haben und ich ihnen helfen konnte, hat mir Spaß gemacht. Das war eher mein Zugang zur Bibliothek: es mit echten Menschen zu tun zu haben.
kreuzer: Wie war es, hierher zu kommen?Metz: Das war und ist toll. Eine meiner ersten Berührungen mit der Stadt war mein erster Bibliothekartag, also das jährliche Klassentreffen unserer Branche. Das war 1993. Deswegen kannte ich das Haus auch im vorherigen Zustand. Und ich kann mich an den Baum erinnern, der im Treppenhaus der Albertina damals wuchs. Ich bin dann zwischendurch auch privat hier gewesen. Also nicht Leipzig war die große Überraschung. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren die positiven Reaktionen der anderen auf die Einrichtung Bibliothek. Wenn ich in Berlin privat weggegangen bin und jemand nach meinem Beruf fragte, antwortete ich ausweichend, »irgendetwas mit Kultur«. Heute sage ich gerne, wo ich arbeite. Die Städtischen Bibliotheken sind tief in der Stadtgeschichte verwurzelt, die Stadtbibliothek ist nach den Thomanern die älteste Kultureinrichtung. In meiner vorherigen Tätigkeit in Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg war es ein anderer Amtszuschnitt und bedeutete vor allem Verwaltungsarbeit. In Leipzig kann ich wieder inhaltlich arbeiten. Insofern ist der Job toll und ich finde Leipzig einfach entspannter als Berlin, obwohl es alles hat, was eine Großstadt braucht.
kreuzer: Damals galt Hypezig gerade als das neue Berlin. Was dachten Sie?Metz: Das war für mich überhaupt nicht der Anreiz, das wollte ich ja gerade nicht. Leipzig ist nach wie vor nicht so aufgeregt und selbstverliebt wie Berlin. Aber die
Bevölkerung wächst. Das merke ich beim Fahrradfahren morgens und abends. Es ist voller geworden. Das Junge in der Stadt haut mich immer noch um. Aber ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mich jeden Abend in irgendeine Szene begebe. An eine Sache erinnere ich mich noch. Als ich das erste Mal die Stadtteilbibliothek Volkmarsdorf besuchte, sagte ein Kollege: »Das ist jetzt wie in Kreuzberg.« Es ging wohl um die Eisenbahnstraße. Wir liefen und liefen und ich dachte, wann kommt es. Als ich den ersten typischen Gemüseladen sah, fragte ich, ob das Viertel jetzt anfange. Er sagte: »Wir sind quasi durch.«
kreuzer: Ihr Lieblingsort?Metz: Ich habe vor der Tür einen Biergarten, die Gosenschenke, da sitze ich schon sehr gerne. Mein eigentlicher Lieblingsort ist die große Wiese im Rosental. Ich radele abends noch da hin und lese.
kreuzer: Muss man eine Bibliothek in Grünau anders angehen als die in der Südvorstadt?Metz: Was die grundsätzliche Organisation angeht, nein; was die Inhalte betrifft, schon eher. Ich nehme mal ein anderes Beispiel. In Lützschena liegt der Altersdurchschnitt höher als in der Südvorstadt, entsprechend richten sich unsere Angebote natürlich eher auch an die ältere Generation. In Grünau diskutieren wir immer wieder das Thema, ob es drei Stadtteilbibliotheken sein müssen. Wir würden ja gerne nur einen Standort haben, am besten in Kombination mit Einrichtungen
wie der Volkshochschule, dem Quartiersmanagement und so weiter.
kreuzer: Warum?Metz: Da spreche ich auch aus Berliner Erfahrung, viele Menschen kennen Einrichtungen wie Bibliotheken nicht, sind bildungsfern, auch wenn ich den Begriff nicht mag, weil er abstempelt. Wenn Menschen nicht so aufwachsen, dass Bibliotheken selbstverständlich für sie sind, dann müssen wir Angebote machen, um sie zu erreichen. Da ist ein größerer Standort von Vorteil, ermöglicht zum Beispiel bessere Öffnungszeiten. Wir haben jeweils zwei Leute in den drei Grünauer Bibliotheken. Wenn sechs in einer arbeiten, kann ich mehr und andere Angebote machen wie Veranstaltungen für Menschen, denen Bibliotheken eher fremd sind.
kreuzer: Wie bewusst ist den Leipzigern das Bibliotheksangebot?Metz: Bestimmt nicht allen. In der Datenbank sind über 70.000 Menschen, die einen Bibliotheksausweis haben. Aber das heißt nicht, dass es nur die sind, die das Haus nutzen. Eine Befragung von Haushalten hat ergeben, dass wir über 300.000 Menschen in Leipzig erreichen. Von allen Kultur- oder außerschulischen Bildungseinrichtungen schafft das keiner. Insofern gelingt es uns gut und unsere Zahlen steigen. Aber noch mehr zu erreichen, fände ich sehr gut.
kreuzer: Die Bibliothek ist ein Ort, wo alle zusammenkommen können – mit und ohne Ausweis?Metz: Die Bibliotheken während der Öffnungszeiten ohne Ausweis zu nutzen, ist möglich und gewünscht. Den Ausweis braucht man, wenn man ein Leihverhältnis eingeht. Es ist ja nicht der Besitz der Bibliothek, sondern alles, was hier vorhanden ist, gehört uns allen. Deswegen können wir es nicht verschenken und fordern es wieder zurück. Die Mahngebühren sind ein pädagogisches Instrument. Ansonsten ist die Bibliothek der berühmte dritte Ort von Ray Oldenburg. Das ist eines unserer wichtigen Ziele: ein kommerzfreier Ort, an dem niemand gezwungen ist zu konsumieren. Ich kann mich einfach hinsetzen und hier aufhalten. Es gibt Menschen, die durchaus zum Schlafen oder Ausruhen herkommen. Manchmal ist
es dann etwas kompliziert, wenn wir um 19 Uhr zum Gehen auffordern, weil man sich dann im Schlaf gestört fühlt. Insofern sind wir eine Bildungseinrichtung, aber nicht in jeder Sekunde.
kreuzer: Herrscht ein Konkurrenzverhältnis zur Albertina und der Deutschen Nationalbibliothek?Metz: Das gehört zu den schönen Punkten in Leipzig. Kaum war ich hier, kam von den anderen Bibliotheken, man müsste zusammen mal ein Bierchen trinken. Wir haben sehr unterschiedliche Aufgabenzuschnitte und sehen uns jeweils als Ergänzung an. Vor ein paar Monaten hatte ich hier ein paar Kollegen von der UB, die berichteten, sie bekämen immer mehr Anfragen von Schulklassen kurz vor dem Abi mit Bitte um Recherchetraining. Und wir besprachen zum Beispiel die Arbeitsteilung, wie wir gemeinsam möglichst viele Klassen betreuen und wer welche Inhalte vermitteln kann.
kreuzer: Wie funktioniert der Buchsommer?Metz: Es gibt einmal den Buchsommer Sachsen, der sich an 12-Jährige und Ältere richtet, und den Buchsommer Junior fürs Grundschulalter. Die Regeln sind gleich: Man muss mindestens drei Bücher lesen und über diese sprechen. Das ist aber
keine Schulsituation, sie sollen eben über die Inhalte sprechen. Am Ende der
Ferien finden beide Abschlussveranstaltungen im August statt. Es gibt die
Diskussion, ob wir Kinder nicht eher an die neuen Medien heranführen sollen.
Aber das eine zu tun, heißt ja nicht, das andere zu lassen.
kreuzer: Es heißt, die Menschen lesen weniger. Schlägt sich das hier nieder?Metz: Wir haben nach wie vor steigende Entleihungszahlen. Das verschiebt sich an manchen Stellen auf die E-Books. Man muss gleichzeitig auch sagen, dass Leipzig wächst, insofern ist es ja auch logisch, dass es mehr Entleihungen werden. Ich kann deswegen nicht wirklich sagen, ob die Leute weniger oder einfach anders
lesen. Im Sachbuchbereich merken wir einen deutlichen Knick. Viele dieser Informationen können Sie aus dem Internet ziehen. Aber heißt das, dass die Menschen weniger lesen? Sie lesen dann nur nicht mehr in einem Buch der Bibliothek. Man liest halt nicht in der bisher bekannten Form, das tue ich ja selbst auch nicht mehr. Mich haut es nach wie vor um, mit welcher Begeisterung, aber auch mit welcher Innigkeit Menschen über Bücher und was sie ihnen bedeuten sprechen. Ich sehe uns daher auch noch in zehn Jahren mit einem großen Buchbestand, aber auch mit anderen Angeboten.
kreuzer: Wie läuft die Lyrikbibliothek?Metz: Die Lyrikbibliothek hat ihre Heimat bei uns, da ist der Betreiber aber der
Verein für Zeitgenössische Lyrik. Es ist eine schmucke, tolle Sammlung. Lyrik sollte man viel mehr zu sich nehmen, weil sie noch was anderes in unseren Hirnzellen
anregt. Aber leider ist sie kein Ausleihrenner.
kreuzer: Sie bieten bewusst Nischenthemen an?Metz: Als öffentliche Einrichtung können wir uns auch leisten, Dinge anzubieten,
die nicht massentauglich sind. Für mich ist das Thema Meinungsvielfalt ausgesprochen wichtig und damit die Frage, wie kann ich mir eine Meinung bilden. Um sagen zu können, das ist nicht mein Ding, muss ich mich vorher über Inhalte,
unterschiedliche Sichtweisen informieren und auch zum Beispiel in einer Bibliothek informieren können. Dennoch achten wir beim Medieneinkauf schon darauf, dass das Thema nicht nur eine Person interessiert. Aber es darf auch nur eine kleine Gruppe interessieren und trotzdem würden wir es anbieten.
kreuzer: Gibt es von der Stadt Leipzig Vorgaben hinsichtlich der Auslastung?Metz: Nein. Es gibt für den Haushalt Indikatoren, die aber nicht sagen: Soundso viel müsst ihr erreichen. Würden wir total in den Keller sinken, würde ich schon gefragt werden, was wir denn mit dem Geld machen und wieso es nicht bei den Bürgern ankommt.
kreuzer: Welche Zukunftspläne haben Sie?Metz: Eine der wichtigsten Fragen lautet, wie öffnet man die Bibliotheken weiter
für die Stadtgesellschaft? Wie schaffen wir Aufenthaltsqualität? Wir arbeiten mit einer Bibliotheksentwicklungskonzeption, die vom Stadtrat beschlossen wurde und uns finanziell in den letzten Jahren gut abgesichert hat. Nächstes Jahr müssen wir eine neue vorlegen und deswegen beschäftigen wir uns gerade viel mit solchen Themen. Da geht es auch um die Bibliothek als dritter Ort. Fassbar wird es am Leipzig-Zimmer, einem Projekt, das die Kulturstiftung des Bundes finanziert.
kreuzer: Worum handelt es sich dabei?Metz: Es wird in der Stadtbibliothek beginnen. In einem 170 Quadratmeter großen Raum wird man einerseits viele Informationen zu Leipzig finden, in unterschiedlichster Form. Aber vor allem geht um offene Flächen, wo wir Stadt, Gesellschaft, Menschen zusammenbringen. Der Raum ist nicht für Veranstaltungen mit hundert Leuten gedacht, sondern ein Ort, wo vielleicht zwanzig Leute zusammenkommen, die sich Tisch und Stuhl selbst so hinschieben, wie sie es brauchen. Es werden keine von uns geplanten Veranstaltungen sein, die im Monatsflyer stehen. Wenn sich jemand hinsetzt und strickt oder eine Nähmaschine mitbringt, ist das auch gut. Es muss nicht immer nur der Dialog sein, Informationsvermittlung ist auch: Ich kann etwas besonders gut und gebe es an andere weiter. Wir starten mit dem Leipzig-Zimmer in der Stadtbibliothek und schauen, was wir davon in die kleineren Bibliotheken tragen können. Ich
will es nicht hoffen, aber vielleicht kommt die Idee auch gar nicht an. Das wäre auch eine Erfahrung.
kreuzer: Was beschäftigt Sie noch?Metz: Ein anderes Thema heißt »Open Library«. Der Name ist nicht so eindeutig, weil Bibliotheken an sich schon offen sind. Konkret geht es darum, dass sie auch zugänglich sind außerhalb der Zeiten, wo Service mit Personal zur Verfügung steht. Ich möchte vielleicht auch zu später Stunde noch etwas ausleihen oder zurückgeben. Dabei geht es auch um unser eigenes Selbstverständnis – geht Bibliothek auch, ohne dass immer Personal ansprechbar ist? Das Modell hat in Skandinavien nicht dazu geführt, dass Personal überflüssig wird. Sondern man nutzt die Einrichtung anders und die Mitarbeitenden übernehmen qualifiziertere Tätigkeiten. Ausleihe und Rückgabe sind mechanische Vorgänge. Aber für Fachfragen, Recherchen und vor allem die Vermittlungsarbeit braucht es echte Menschen. Die Anfragen an uns von Kitas, Schulen und Erwachsenenbildungs-Einrichtungen sind enorm zahlreich. Dafür brauche ich das Kollegium und da sehe ich die Zukunft für Bibliotheken.
kreuzer: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Huldreich Groß zu treffen, der mit seiner Schenkung an die Stadt den Grundstein für die Bibliothek legte, was würden Sie ihm sagen?Metz: Huldreich Groß ist schon ein paar Jahrhunderte tot, insofern wäre es gemein, ihn zu fragen: Warum kommt die weibliche Form in seinem Testament, in dem er der Stadt sein Vermögen überträgt, überhaupt nicht vor? Das könnten wir diskutieren. Aber was mich sehr glücklich macht, ist, dass zu Beginn unserer Bibliothek ein Bürger sagte: »Wir ändern mal was!« Und das ist, finde ich, genau der Schwung, der uns bis heute trägt. Insofern würde ich sagen: »Respekt! Super Idee! Danke!«