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Literatur

12 Jahre Arbeit für 24 Stunden Wasser

Ulrike Draesner schreibt vom Ärmel

  12 Jahre Arbeit für 24 Stunden Wasser | Ulrike Draesner schreibt vom Ärmel

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal durchquert Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz mit Ulrike Draesners "Kanalschwimmer" den Ärmelkanal.

Charles' Ehe geht in die Brüche – ein Szenario, so einfach wie kompliziert. In seiner Verzweiflung klammert er sich an einen alten Traum: Er will den Ärmelkanal durchschwimmen. Während seine Frau Maude nichts gegen den Brexit einzuwenden hat, schwimmt er also im Alter von 62 Jahren durch den Ärmelkanal Richtung Frankreich. »Am Horizont gegenüber zeichnete sich die französische Küste so klar und zart ab, als hätte die nun zur Gänze aufgestiegene Sonne sie über Nacht auf der anderen Seite der Erde ausgebrütet und frisch zum Aushärten ausgelegt.«

Und während der mit Vaseline eingeschmierte Körper nichts anderes tut als die immer gleiche Bewegung auszuführen, denkt Charles an den Beginn seiner Beziehung zu Maude, an ihre Schwester und an seinen besten Freund. Man könnte sagen, sein Leben zieht an ihm vorbei, das Wasser sowieso.

Er weiß, dass manche die Überquerung des über 30 km langen Seewegs mit dem Leben bezahlen, doch sterben will er nicht: »Der menschliche Körper bestand zu siebzig Prozent aus Wasser. In den anderen dreißig Prozent hauste ein Tier, das nur eines wollte: überleben.«

Die eigentliche Hauptfigur des Buches aber ist der Ärmelkanal, the Channel, an ihm reibt sich Charles wortwörtlich auf. »Durch das Schließen der Lider wurde seine Innenwelt mächtiger, auch das Hören kippte im Wasser in den Körper zurück, während Arme und Beine ohne Unterlass ins Außen stießen und es zu greifen suchten.« Die Ursuppe, in die er zurück kehrt und um sein Leben strampelt: Mal »zappeln« die Wellen, mal sind sie »rostig rot wie Fischblut«, das Meer »rollt« und »drückt«, alles verflüssigt sich. Eine melodiöse, sinnliche Sprache, in der man gern ertrinkt, in der Hoffnung, das Charles es nicht tut. Während der Ärmel und die darin verlaufende Grenze zwischen England und Frankreich streng definiert ist, löst sich die Grenze zwischen Charles und dem Meer zunehmend auf. Ein Buch über den Stoff, aus dem das Leben gemacht ist.


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