Eine außergewöhnliche Veröffentlichung erfordert außergewöhnliche Maßnahmen, so könnte das Motto für den musikalischen Marathon namens »Heldenstadt Anders« sein. Der kreuzer sprach mit Jakob Geisler über das Zustandekommen und seine Motivation.
Die beim »Heldenstadt Anders«-Festival geladenen Bands haben den Underground der DDR entscheidend geprägt und sind fast alle seit ihrem Ende nicht mehr aufgetreten. »Underground« als Klammerbegriff wird hier weit ausgelegt, von eher radikal bis zur »anderen Band«. Stilistisch sowieso: von Punk via Pop bis zu Neutönern. Opulente Gewichtigkeit strahlt sie aus, die als Triple-Vinyl-Gedenkbox mit 148-seitigem Booklet auftrumpfende Compilation, dazu von Jakob Geisler, genannt Schrammel, einem quirligen wie akribischen Aufbereiter Leipziger Subkultur, der letztes Jahr schon eine Würdigung der ersten hiesigen Punkband Wutanfall vorlegte.
kreuzer: Wie ging alles los?JAKOB GEISLER: Die Idee gab es schon länger, denn da fehlte einfach etwas. Es gab diese Speerspitze, Die Art und L’Attentat, und eine große Anzahl Gruppen, deren Namen zwar herumgeisterten, die aber kaum veröffentlicht waren. Im Zuge der Wutanfall-Ausstellung waren plötzlich die Kontakte da. Wir haben trotzdem lange überlegt, ob eine solche Compilation überhaupt möglich ist. Kann man Die Art mit L’Attentat auf einen Sampler tun? Ich habe die Bands dann angeschrieben und das Feedback war extrem positiv. Die Idee war dabei, die Platte gemeinsam mit den Bands zu machen. Das fanden wohl alle gut.
kreuzer: Wie war dann die Arbeitsweise?GEISLER: Die Bands durchforsteten ihre Dachböden oder Keller. Meistens bin ich hingefahren und wir haben dann die Interviews gemacht. Manche schrieben dann ihre Beiträge selbst, einige habe ich verfasst. Es gab auch übergreifende Themen, wie IG Rock oder diverse Veranstaltungsorte, bei denen ich Autoren und Zeitzeugen bat, etwas darüber zu schreiben. Es war eine tolle Zusammenarbeit! Dadurch ist das Beiheft immer dicker geworden. Musikalisch war es ähnlich: Wir dachten, eine Doppel-LP mit je zwei Stücken, da hätten wir alle. Doch plötzlich tauchten in den Gesprächen immer weitere Bandnamen auf. Und es stellten sich die Fragen: Wer steckt dahinter? Wie bekommt man Kontakt? Und gibt es Material? Ich habe mich manchmal gefühlt wie Indiana Jones. Ein Beispiel: Plötzlich tauchte ein Tonband auf, das seit 1984 keiner mehr gehört hatte. Darauf befanden sich neun Delta Z-Stücke! Bis dahin waren keine Aufnahmen überliefert. So wuchs es nach und nach zur Dreifach-LP mit 39 Bands.
kreuzer: Es ist ja eine ziemliche Bandbreite, stilistisch wie vom politischen Agieren damals her. Was war für Sie die Klammer?GEISLER: Die zeitliche Grenze war klar bis 1989. Alles danach hätte unseren Fokus verfälscht. Wir haben den weit reichenden Begriff »Underground« gewählt. Es sollte Punk-Wurzeln haben und politisch stimmen. Das war uns wichtig. Wie jede Band im Einzelnen agiert hat, davon kann sich nun jeder selbst ein Bild machen und es nachlesen.
kreuzer: Glauben Sie, dass damit auch noch einmal ein Deutungsprozess ausgelöst wurde?GEISLER: Im Grunde macht das ja jede Veröffentlichung. Zwei Dinge haben sich dadurch entwickelt: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Austausch untereinander. Manche haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen oder waren sogar verstritten. Es war für viele auch die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte.
kreuzer: Jetzt sitzen Sie auf einem überraschend großen Berg an Material. Wie geht es weiter?GEISLER: Unser Kerngedanke ist, ein Archiv aufzubauen. Nicht zuletzt für andere, die sich damit auseinandersetzen wollen. DDR-weit wäre allerdings zu bruchstückhaft. Es braucht ein Leipzig-Untergrund-Archiv, das die anderen Institutionen zur DDR-Opposition in der Stadt ergänzt. Mehr kann ich nicht verraten, aber es gibt bereits nächste Projekte. Es bleibt spannend.