Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal befasst sich Literaturredakteurin Micklitz mit der Geschichte eines verschwundenen Orts.
Im Leipziger Umland sind auf Kosten der Braunkohle schon einige Dörfer zerstört worden – Menschen wurden umgesiedelt, Häuser abgerissen, das Land weggebaggert. Am Ende der Devastierung bleibt nur die Erinnerung der ehemaligen Einwohner. In der Woiwodschaft Niederschlesien in Polen passierte in den 70er Jahren etwas ganz ähnliches: Ein ganzer Ort verschwand von der Landkarte.
»Spätherbst war es, Anfang der achtziger Jahre. Von der Stadt am Berggipfel war bereits keine Spur mehr übrig.« Das hätte das Ende einer 700 Jahre dauernden Geschichte sein können, und das ist es auch – doch ist gleichzeitig ein Anfang: Der polnische Journalist Filip Springer hat die Geschichte des Ortes genau rekonstruiert und aufgezeichnet: Kupferberg, so lautete der Name des kleinen Dorfes, dessen offizielle Geschichte mit den Aufzeichnungen im 14. Jahrhundert beginnt. Die, die es sich leisten können, reißen sich um die Rechte zum Abbau der Bodenschätze.
Was sich auf den ersten zwanzig Seiten als recht trockene Abfolge von Namen und Zahlen liest, entwickelt auf den 300 restlichen Seiten einen ungemeinen Sog: Die Reportage Springers erweitert sich zum schillernden Mosaik einer verschwundenen Lebenswelt der Bergleute und ihrer Familien. Einzigartig ist diese nicht – man erkennt in den geschilderten Umständen die Geschichte anderer Bergbaustädte wieder – doch ungemein faszinierend und gerade durch ihren Detailreichtum exemplarisch für die weltweiten Folgen der üblichen Hoffnungen auf den großen Reichtum, den Raubbau, die Gier. Am Ende ist der Berg unter dem Ort vollkommen ausgehöhlt.
Auch die zwei Weltkriege hinterlassen ihre Spuren, allerdings mehr bei den Bewohnern als an den Gebäuden. Kupferberg wird Miedzianka. Die UdSSR lässt heimlich Uran abbauen, die Bergleute wissen davon nichts, der kalte Krieg nimmt den Schaden an ihren Körpern in Kauf. Als nichts mehr zu holen ist, wird der Berg zugemacht. Doch Frieden kehrt nicht ein, denn die Stollen beginnen einzustürzen, die Erde sackt ab oder tut sich auf. Häuser verziehen sich, »singen« nennen die Bewohner den Verfall ihres Lebensraumes. Ganze Bäume und Gebäude verschwinden über Nacht in riesigen Löchern. Die, die noch stehen, sind kaum bewohnbar. Heute ist nichts mehr da, keine Menschen, keine Häuser – es ist das sprichwörtliche Gras über Kupferberg gewachsen. Übrig geblieben ist eine Geschichte, die Dank Springer einen Ort zwischen zwei Buchdeckeln gefunden hat.