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Stadtleben

Im Schildrötengang

Das gescheiterte Filmkunsthaus auf der Feinkost: eine Geschichte vom großen Geld und der Angst davor

  Im Schildrötengang | Das gescheiterte Filmkunsthaus auf der Feinkost: eine Geschichte vom großen Geld und der Angst davor

Der Traum war groß, die Fördersumme spektakulär, das Ende ein Schock: Im Dezember schlug die Feinkost-Genossenschaft eine Förderung von 21 Millionen Euro aus und setzte der Idee vom Filmkunsthaus an der Karli ein Ende. Was geht vor unter der Löffelfamilie?

Wir befinden uns im Jahre 2020 n. Chr. Ganz Leipzig ist von Mietexplosionen und Verdrängung durchsetzt. Ganz Leipzig? Nein! Ein von unbeugsamen Genossenschaftern bevölkerter Hof direkt im begehrten Zentrum-Süd hört nicht auf, der Entwicklung Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für potenzielle Entwickler, die sich mit der Besatzung im befestigten Feinkostlager arrangieren wollen.

Selbst ein so alternativkultureller und gemeinnütziger Partner wie die Cinémathèque prallt ab am Panzer der hier Eingeigelten. Unbeweglich wie eine Schildkröte wird jede Entwicklung unmöglich. Das ist die öffentliche Lesart nach der Nachricht aus dem Dezember des letzten Jahres, dass das Filmkunsthaus nicht in der Feinkost entsteht. Geplant und eigentlich schon sicher geglaubt war hier das ambitionierte Projekt eines großen Arthouse-Kinos.

Doch die Gründe, aus denen das gemeinsame Projekt mit einem Volumen von bis zu 21 Millionen Euro abgeblasen wurde, sind kompliziert – und variieren je nach Lesart der Beteiligten.

Manche Vergleiche taugen bedingt. Die Feinkost als jenes Gallierdorf von Asterix & Co. zu zeichnen, trifft aber genau. Das Gelände ist eine Trutzburg gegen den Zeitgeist, sein Anblick täglicher Stachel für Investoren. Ein Filetstück direkt an der Karl-Liebknecht-Straße, das dem Immobilienmarkt entzogen ist. Denn das Ensemble der ehemaligen Konservenfabrik gehört einer Genossenschaft. Gemeinsam wurde das Areal erstritten, gemeinsam wird entschieden. Hier regiert ein Kollektiv. Ein bisschen weht der Geist von Hippiekommune über den Hof.

Der Charme der Enklave zeigt sich besonders, wenn neben ihr am Wochenende die weißen Limousinen mit Muldentalkreis-Kennzeichen parken, während ihre Besitzer auf der Karli schwofen. Oder wenn Touristengruppen in Outdoorklamotte vor den Graffiti-Wänden Selfies knipsen und sich im Großstadtdschungel wähnen. In der Feinkost ticken die Uhren anders, ihren eigenen Rhythmus scheinen auch Tiere zu mögen. Tauben besiedeln die Dachetage vom Südflügel. Sie turteln und kuscheln hinterm blauen Netzvorhang, der die Fassade sichert. Der Hof wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dass es im Bekleidungsladen Mrs. Hippie seit Jahren in einer Ecke hereinzieht, weil eine Scheibe kaputt ist, bemerken wohl nur Kunden. Die Auftragsbücher sind voll beim Schuhmacher namens Fußgänger und trotzdem strahlt das Treiben im Laden nichts von Stress aus. Für ein Feierabendbier ist hier immer Zeit. Der markant riechende Hund vom Kräutergeschäft nie weit.

Mit Widerstand wurde dieses Wahrzeichen, Gesicht und Tor zum Leipziger Süden, der Abrissbirne und dem Kapitalmarkt entrissen. Ein stadthistorischer Sieg, der schon allein die Feinkost sympathisch machen muss, auch wenn das marode Ensemble so manchem Passanten hübsch getüncht besser gefallen würde. Natürlich bringt ein Kollektivgebilde Eigenheiten mit sich. »Eine Genossenschaft ist ein schildkrötenhaftes Gebilde«, sagt Susann Thiel, Besitzerin des Kinderbuchladens Serifee auf der Feinkost und Genossenschaftsmitglied. »Es geht alles deutlich langsamer, weil viele Menschen mit einbezogen werden wollen. Demokratie ermöglicht eben nicht die ganz schnellen Entscheidungen.« Die Schildkröte – das ist ein weiteres in mehrfacher Hinsicht treffendes Bild. Denn so heißt auch die militärische Formation, bei der sich römische Legionäre mit Schilden nach allen Seiten schützen. Es kann sich nicht jeder einfach auf dem Hof ansiedeln, das Projekt muss zum Genossenschaftsgeist passen, darf nicht zu kommerziell sein – was immer das im Einzelfall genau heißt –, das Kollektiv stimmt darüber ab. Mehrere Personen, deren Pläne die Genossenschaft ablehnte, berichten dem kreuzer, dass die Kommunikation nicht einfach war. Einer beschrieb die Situation als »am ausgestreckten Arm zu verhungern«.

Es ist kompliziert

Das Filmkunsthaus auf der Feinkost wirkt auf den ersten Blick wie eine Konstellation, in der es nur Gewinner geben kann. Wo das Geld für Erhaltung und Ausbau des Geländes immer knapp ist, wären 21 Millionen Euro ein enormer Rettungsring gewesen. Noch dazu hätte mit der Cinémathèque eine kulturelle Instanz die brachliegenden Keller im Südflügel bezogen. Auch deshalb schockierte das Scheitern die Öffentlichkeit. Die Feinkost habe plötzlich die Hosen voll gehabt, aus Angst Nein gesagt – so heißt es auf der einen Seite. Man sei über einiges im Unklaren und mit dem Risiko allein gelassen worden, sagt die andere Seite. Es ist kompliziert. Und dass man von zwei Seiten spricht, sagt viel aus. Denn das Projekt war eine gemeinsame Sache. Darin immerhin sind sich alle Beteiligten bis heute einig. Dass hier zwei verschiedene Kulturen aufeinandertreffen – eine etwas hemdsärmelig agierende Genossenschaft und ein ehrgeizig-energischer Verein, der endlich nach vielen Anläufen sein eigenes Kino realisieren will –, erzeugte ein kritisches Hintergrundrauschen. Das nahmen anfangs nicht alle wahr.

Das Kollektiv: Genossenschaftsmitglieder und Mitarbeiter im Hof der Feinkost
Das Kollektiv: Genossenschaftsmitglieder und Mitarbeiter im Hof der Feinkost (Foto: Christiane Gundlach)

»Ich bin geschockt und enttäuscht vom Umgang der Feinkost mit ihren Partnerinnen und über ihre Verantwortung als Immobilieneigentümerin«, sagt Cinémathèque-Geschäftsführerin Angela Seidel. »Wirklich verstört mich, wie es gelaufen ist.« Wie es im Groben lief, beschreiben alle Beteiligten gleich, der Teufel steckt in den Details. Anfangs hatte das Projekt Filmkunsthaus ein Volumen von circa drei Millionen Euro und sollte über einen Kredit finanziert werden. Zur Realisierung schlossen der Verein Cinémathèque und die Kunst- und Gewerbegenossenschaft Feinkost eG im Jahr 2018 einen Vorvertrag. Diese Absichtserklärung hielt Raumansprüche und den Rahmen für Realisierung wie Finanzierung fest. »Dann kam die Politik ins Spiel«, sagt Feinkostvorständin Anke Müller. »An diese hatte sich die Cinémathèque als treibende Kraft gewandt, um für ihr Projekt finanzielle Mittel zu akquirieren.« Unter Federführung von Dirk Panter (SPD) bemühte man sich um öffentliche Fördergelder. Der Bund gab die Zusage für Mittel, wenn der Freistaat Gelder in gleicher Höhe bereitstellt, was Stadt und Politik bewog, Gelder für die Sanierung des Feinkostgeländes an sich gleich mit zu beantragen. Daher wurde das bereits existierende Sanierungskonzept der Genossenschaft aktualisiert und das Filmkunsthaus ins Gesamtprojekt integriert.

Demnach sollte die Cinémathèque Genossenschafter werden und hätte Anteile gezeichnet. Die Miete wäre gegenüber den anderen Mietern vermindert und langfristig festgeschrieben gewesen, sagt Mareike Schade, ebenfalls Feinkostvorständin und Inhaberin des Kunsthandwerkgeschäfts Patiperro. »Weil wir das kulturelle Projekt unterstützen wollten, hätte die Cinémathèque auf 25 Jahre Sonderkonditionen gehabt im Vergleich zu allen anderen.«

21-Millionen-Euro-Knockout

Im November 2018 sah sich der Feinkostvorstand auf einer Denkmalmesse von der Nachricht überrumpelt, eine Förderung von 21 Millionen Euro sei »bewilligt« (LVZ). Vorständin Schade erklärt: »Für uns war überraschend, zuerst aus der Presse zu erfahren, dass der Bundeshaushalt die beantragten Mittel in der Höhe bewilligt habe. Es war Freude da, auch Skepsis. Es ist ein großer Betrag – wie kann das funktionieren?« Hier beginnen die Schilderungen voneinander abzuweichen. Dass es sich bei den 21 Millionen um eine Maximalsumme handelte, war allen bewusst, heißt es – aber man habe mit weniger gerechnet. Dass die Nachricht überhaupt so früh die Öffentlichkeit erreichte, liegt an CDU-Politiker Jens Lehmann. Das Leipziger Bundestagsmitglied entdeckte den entsprechenden Hinweis im Bundeshaushalt und schmückte sich mit der Veröffentlichung der Information. Eigentlich wollten alle Beteiligten lieber in Ruhe planen – ohne die Last äußerer Erwartungen. Das war nun verunmöglicht.

Ein bisschen wie in Asterix‘ Dorf: Thomas Meisezahl vom Laden Kräutermeise
Ein bisschen wie in Asterix‘ Dorf: Thomas Meisezahl vom Laden Kräutermeise (Foto: Christiane Gundlach)

Daraufhin trafen sich Genossenschaft, Cinémathèque, Dirk Panter als politischer Vertreter und Vertreter der Stadtverwaltung, um das weitere Vorgehen zu diskutieren. Denn außer der Summe sei nichts klar gewesen, sagt Schade: »Die Fördersumme war nicht bewilligt, sondern im Haushalt bereitgestellt worden.Bis dahin war überhaupt nicht bekannt, unter welchen Bedingungen sie ausgereicht wird. Normalerweise werden Fördergelder erst nach Prüfung der Förderfähigkeit des Projektes in den Haushalt eingestellt.« Diese Reservierung im Haushalt setzte alle unter Zeitdruck, rasch einen Antrag einzureichen, damit die Förderung nicht verfällt.

Als wirtschaftliches Unternehmen ist die Genossenschaft nicht auf die gleiche Weise förderfähig wie der gemeinnützige Verein Cinémathèque. Daher musste juristisch geklärt werden, wie die Förderung in die Infrastruktur des Geländes fließen kann, ohne die Förderfähigkeit zu gefährden. Es folgen im Verlauf des Jahres 2019 viele gemeinsame Gespräche. Die Genossenschafter geben an, stets gesagt zu haben, nicht durch ein Vorhaben Dritter selbst in Insolvenzgefahr schweben zu wollen, berichtet Schade. »Im Juni waren wir weit in der Planung, wie der Fördergeldantrag für Berlin aussehen kann. Als Genossenschaft haben wir immer wieder betont, wir benötigen die Absicherung. Oberste Priorität waren Erhaltung und Fortbestand aller aus eigenen Kräften entstandenen Existenzen, die auf dem Gelände unserer Genossenschaft ansässig sind. Es sind verschiedene Szenarien durchgespielt worden.« Ende Juni 2019 waren Vertreter von Bund, Land und Stadt zur Begehung vor Ort, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wohin das Geld fließt.

Nach einem internen Gespräch zwischen Bund, Land und Stadt, sagt Schade, »ist uns mitgeteilt worden, der Bund möchte eine Grundbuchbesicherung über die 21 Millionen Euro. Das war bis dahin in der Schärfe, dass es überhaupt eine Grundbuchbesicherung geben muss, nicht gesagt worden.«

Das bedeutet, dass der Fördermittelgeber wegen der Eintragung einer Grundschuld im Totalschadensfall Eigentümer des Geländes werden könnte. Doch welches tatsächliche Risiko entsteht daraus?

»Nicht über unsere Leiche«

Die Genossenschaft hatte stattdessen die Eintragung einer Grunddienstbarkeit der betroffenen Flächen für die Stadt Leipzig angeboten, Erbpachtrecht oder die Real-teilung des Grundstückes. Diese – gegenüber einer Grundbuchbesicherung – milderen Varianten erwiesen sich als juristisch unhaltbar oder waren aufgrund der Geländestruktur nicht realisierbar. Daher beharrte der Bund auf der Grundbuchsicherung. Nach einem Plenum der Genossenschafter im Sommer, beratend war ein Anwalt anwesend, habe man im Juli intern beschlossen, diese Besicherung nicht zu gewährleisten. Das teilte die Genossenschaft der Stadt im August mit. Anfang Oktober hielt die Stadt in einem Gespräch fest, dass das Projekt ohne die Grundbuchbesicherungen gestorben sei. »Das war der K. o.«, sagt Mareike Schade. »Es gab immer den Konsens: Nicht über unsere Leiche«, ergänzt Anke Müller. »Selbst wenn wir das gesamte Gelände sanieren, ist es keine 21 Millionen wert. Es ging um unsere Daseinsberechtigung.« Die Darstellung der unerwarteten Forderung unterstützt Genossenschaftsmitglied Frank Reinhardt: »Das stand plötzlich im Raum. Meinem Eindruck nach waren auch Cinémathèque und die Kulturbürgermeisterin überrascht von der Besicherung. Da wollte die Stadt dann nach einer Lösung suchen, die aber nicht erfolgte. Und mich stört jetzt diese Umdrehung, dass das Projekt gescheitert sei, weil die Feinkost nicht gewollt habe.«

Angela Seidel erinnert sich an die Szene, die das Filmkunsthaus in der Feinkost beendet: »Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke stellte die Frage: ›Sie sind sicher, dass Sie das Geschenk von bis zu 21 Millionen in Ihre Immobilie ablehnen?‹ Fassungslos stand sie da und fragte die Vertreter der Genossenschaft: ›Was machen Sie denn da?‹ Die Antwort: ›Ja, wir haben unsere eigenen Pläne, wir investieren selbst.‹« Leipzigs Kulturbürgermeisterin drückt auf kreuzer-Anfrage das Bedauern aller Fördermittelgeber aus. »Wir haben ein knappes Jahr gerungen und fair verhandelt. Die Stadt Leipzig hat in Abstimmung mit Bund und Land bereits sehr früh deutlich gemacht, dass die Absicherung der Fördermittelsumme eine Voraussetzung – und im Übrigen auch üblich – ist. Die Feinkost ist sanierungsbedürftig und ich kann nur bedingt nachvollziehen, aus welchen Gründen die Genossenschafter sich diese einmalige Chance entgehen lassen.«

Ein bisschen Sicherheit

Dass die Genossenschaft vom geforderten Grundbucheintrag derart überrascht sei, kommt für die Partner wiederum überraschend, sagt Cinémathèque-Chefin Angela Seidel: »Sie haben einfach nicht zugehört. Der Bund sagt, ihr müsst mir garantieren, dass mit dem Geld 25 Jahre lang eine kulturelle Nutzung vonstatten geht. Wenn es nicht mehr das Filmkunsthaus sein sollte, dann wird es jemand anderes. Wenn das alles komplett den Bach runtergeht, erst dann haftet ihr. Und der Vertreter des Bundes machte klar, ›das ist noch nie in meiner Laufbahn von kulturellen Investitionen passiert‹.« Sekundierend sagt Cinémathèque-Vorstand Sven Wörner, dass sie vom offenbar entscheidenden Genossenschafts-Treff im Sommer 2019 »explizit ausgeladen« wurden. »Wir hatten keine Chance, das Projekt vor größerer Runde vorzustellen.« Zudem sei eine Besicherung der Feinkost von Anfang an im Gespräch gewesen, schon als es noch um den Drei-Millionen-Kredit ging. »Tatsächlich wurde es 2019 dann konkret: Wie setzt man das um, wer ist am Ende wie verantwortlich?«

Seidel hätte gern etwaige Bedenken ausgeräumt: »Was dieses Haftungsrisiko bedeutet, hätten wir dort ausführen können, wo Unstimmigkeiten oder Vertrauensfragen sind, dass es transparent ist. Diese Sitzung sei nur formal, hieß es. Und dann bekamen wir ein Schreiben, an der Sitzung der Generalversammlung haben 16 Menschen teilgenommen und alles einstimmig beschlossen. Und ich weiß nicht, was die ihnen erzählt haben. Wie haben sie es gesagt? Liegt es an ihren Formulierungen? Spielen sie mit den Ängsten der Mitglieder? Sie werden mit Sicherheit nicht kommuniziert haben: ›Leute, das ist unsere Chance, diese Immobilie zu retten.‹ Dann wäre das Abstimmungsergebnis anders verlaufen« – glaubt Seidel. Genossenschafterin Susann Thiel, seit vier Monaten auch im Aufsichtsrat, fühlt sich gut informiert: »Wir wurden natürlich alle bei allen Schritten gefragt.« Dass der Beschluss vom ganzen Kollektiv getragen wird, bestätigen mehrere vom kreuzer befragte Genossenschafter.

Tauben und Verfall: Feinkostgelände im Jahr 2020 – von der Niederkirchnerstraße aus gesehen
Tauben und Verfall: Feinkostgelände im Jahr 2020 – von der Niederkirchnerstraße aus gesehen (Foto: Christiane Gundlach)

Weit auseinander gehen die Vorstellungen vom Risiko. So sagt der Feinkostler Frank Reinhardt: »Schockstarre ist der falsche Begriff, aber alle waren beeindruckt vom plötzlichen Angebot, 21 Millionen zu verbauen. So ein Fördermittelbescheid kann Segen und Fluch sein.« Der Feinkost-Vorstand sieht das ebenfalls drastisch. »Wenn in der Bauphase Gelder ausgegeben werden, denen hinterher bescheinigt worden wäre, dass sie nicht dem Förderzweck entsprechen, hätte das Geld zurückgezahlt werden müssen«, sagt Schade. »Hätte die Cinémathèque die geforderten 25 Jahre nicht durchgehalten, hätten die Flächen trotzdem über den festgelegten Zeitraum dem Förderzweck zugeführt werden müssen. Wer kümmert sich dann darum?« Müller ergänzt: »Für den Fall, es geht etwas schief, kann die Grundschuld sofort gezogen werden. Das Gelände ist keine 21 Millionen wert, es würde dann dem Bund gehören oder in eine Versteigerung gehen. Die Genossenschaft hätte keinen Anspruch mehr. Alle Existenzen, die sie sich in über zehn Jahren mit eigenem Geld mühevoll aufgebaut hat, wären vernichtet. Der Fördermittelgeber könnte sagen: ›Moment, der Stein hier entspricht nicht den Zielen der Förderung.‹ Wir haben Angst vorm wirtschaftlichen Aus. Nicht vor einem ganz konkreten Szenario, sondern vor dem großen Ganzen.«

Aus Sicht der Cinémathèque war das Risiko überschaubar. Laut Sven Wörner gab es den Willen der Stadt, bei Ausfall als Nachnutzerin der Filmkunsthausflächen zu fungieren. Damit sollte die Last für die Feinkost abgefangen werden – verschriftlicht wurde diese Absicht nicht mehr. »Das Bild, dass die Feinkost auf 21 Millionen Verlust sitzenbleibt, entspricht nicht der Realität«, fährt Wörner fort. Denn die 
beauftragte Projektsteuerungsfirma sei für diesen Fall versichert. Außerdem würden die Planung, Ausschreibung, Vergabe und Ausführung geprüft von Beratern, Stadt, Land und Bund. »Da erfolgt je nach schlussendlicher Konstruktion des Gefüges aus Bauherrin, Fördermittelempfängerin und ausreichender Behörde jeweils eine potenziell viermalige Prüfung, bevor Gelder ausgezahlt werden. Es war unser Anliegen, das Gesamtgefüge so zu bauen, dass die Feinkost nicht belangt werden kann.«

Wut und Unverständnis

Überforderung mit dem Riesenprojekt klingt in vielen Gesprächen an. Etwa in den Worten Mareike Schades, die ebenfalls von »Segen und Fluch« spricht: »Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir als Genossenschaft mit all unseren Mitgliedern anders auf dem Gelände saniert als ein großer Investor. Natürlich waren die finanziellen Mittel nicht vorhanden, die Banken haben uns nicht in dem Maße unterstützt, wie wir es uns gewünscht hätten.« Eine gewisse Grundskepsis großen Projekten gegenüber herrsche generell in der Feinkost, sagt ein Genossenschafter, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. »Sicherlich haben wir einen recht geringen Mut zum Risiko.« Das gründe in schlechten Erfahrungen aus der Vergangenheit wie dem Genossenschaftsstreit vor zehn Jahren. Und schon einmal hätten sie kollektiv Fördergelder zurückzahlen müssen, weil jemand Richtlinien nicht einhielt. Der Genossenschafter sieht einen Hauptgrund für das Scheitern in der engen Zeitschiene, aber auch in Kommunikationsproblemen. Als der Feinkostvorstand Anfang 2019 wechselte, sei das Klima zwischen ihm und der Cinémathèque eisiger, unverständiger geworden. Vom Gefühl, nicht ernst genommen worden zu sein, spricht Buchhändlerin Susann Thiel: »Ich als Anliegerin des Hofes war daran interessiert, dass der Bauvorgang so abläuft, dass ich mit meinem Geschäft nicht in Existenznöte gerate. Zum Beispiel dass der ganze Hof aufgerissen wird und ich zumachen kann. Und da soll es Äußerungen gegeben haben von der Cinémathèque wie: ›das ist uns egal‹. Das fühlt sich nicht cool an, da habe ich mich von der künftigen Genossenschafterin nicht wertgeschätzt gefühlt.« Mit dem Hinweis auf unsensibles Agieren konfrontiert, erwidert Sven Wörner: »Wir sind keine Invasoren, die einen Haufen Kohle mitbringen und drüberwalzen.« Die Belastungen hätte man möglichst gering gehalten. Die Forderung der Genossenschaft allerdings nach der Kompensation von Umsatzausfällen sei unerfüllbar gewesen, weil wettbewerbsrechtlich nicht zulässig. Außerdem schreibt die Feinkostsatzung vor, dass Mitglieder bei Instandsetzungsarbeiten etwaige Beeinträchtigungen hinzunehmen haben.

Für Angela Seidel hat die Genossenschaft irgendwann dicht gemacht: »Wir haben zu tun gehabt mit Widerständen gegenüber unseren Ideen. Es wurden wenig eigene Ideen entwickelt, so dass sich das Gefühl aufdrängt, dass das Projekt ab einem bestimmten Zeitpunkt auf keinen Fall mehr gewollt wurde. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie uns mit derselben Offenheit begegnet sind wie wir ihnen.« Seidel ist über den Ausgang bitter enttäuscht. »Ich habe kein Verständnis dafür. Ich akzeptiere jede Entscheidung. Aber dann bitte wertschätzend und respektvoll.« Sie habe sich »ja völlig lächerlich gemacht«, als sie im Bundesverband Kommunale Filmarbeit, beim Filmsommer Sachsen, beim Bund und im Sächsischen Staatsministerium für das Projekt trommelte. »Ihre Erklärung ist zu dünn, ich kaufe ihnen das nicht ab. Sie haben jederzeit das Recht abzulehnen. Aber nach zweieinhalb Jahren intensivster Arbeit, Kraft, Ressourcen, Zeit fühle ich mich ehrlich gesagt verarscht. Es ist einfach alles zwecklos.«

Wie gehts weiter?

Angesichts der gegenseitigen Vorwürfe, Missverständnisse bis Missverstehenwollen verwundert es nicht, dass Feinkost und Cinémathèque selbst über die abschließende gemeinsame Pressemitteilung zwei Monate lang stritten. Erst zwei Tage vor Weihnachten wurde das offizielle Ende verkündet. Sofort kochten die Gerüchte hoch. Eins davon: Die Genossenschaft würde die Feinkost verkaufen wollen und wegen Reichtum alle Geschäfte schließen. Das sei lächerlich, sagt Feinkostvorständin Mareike Schade. Den Wert des Geländes benennt sie mit »wahrscheinlich um die vier Millionen. Wir haben es nicht schätzen lassen, denn wir haben kein Interesse, es zu veräußern.« Ein Immobilienexperte, den der kreuzer um eine grobe Schätzung bat, beziffert den Grundstückswert ohne Aufbauten auf 6,5 Millionen Euro. Ob die Stadt Leipzig Vorkaufsrecht hat, konnte eine Stadtsprecherin nicht sagen: Das würde erst im Falle eines Verkaufs geprüft.

Sicher könnte die Genossenschaft das Gelände zu ihren Gunsten veräußern, es gehört schließlich der Genossenschaft, sagt Vorständin Anke Müller, aber das werde nicht passieren: »Hier haben sich Menschen zusammengefunden, viel Herzblut und finanzielle Mittel hineingesteckt. Das ist bei den meisten so verankert, dass sie es nicht wieder aufgeben. Die Feinkost ist ein Teil unseres Lebens. Und es ist nicht so, dass wir die Hände in den Schoß legen und sagen: ›Oh Gott, morgen fällt die Feinkost zusammen.‹ Es ist uns sehr bewusst, dass an vielen Ecken gehandelt werden muss. Und das ist in Arbeit.« Das werde nun statt mit dem Riesenbudget von 21 Millionen Euro nach dem gewohnten Prinzip der Genossenschaft angegangen. Die Flächen werden mit Krediten in abzahlbaren Höhen saniert, kommen in Vermietung und dann kann das nächste Stück saniert werden. Ein offensichtlich langer Prozess.

Das ist eben so, meint Mareike Schade: »Auch wenn es nach außen hin nicht sichtbar ist, welche Notsicherungs- und Sanierungsmaßnahmen wir auf dem Gelände durchführen, passiert hier etwas. Fakt ist, wir haben durch das Projekt Cinémathèque im letzten Jahr einen Kredit nicht weiterverfolgen können, weil das Projekt erst mal geprüft werden musste. Die Kraftanstrengungen, die im Gelände stecken, wurden alle aus eigener Tasche geleistet. Wir haben im letzten Jahr Ausgleichsbeiträge für die Bodenwerterhöhung aufgrund des Sanierungsgebiets an die Stadt gezahlt. Hunderttausend Euro, die wir nicht in die Sanierung stecken konnten, die wir aber leisteten, damit das Gelände weiter uns gehört.«

»Wenn außerordentliche Kosten auf uns zukommen, dann geht der Hut rum«, so sei das halt in der Feinkost, meint der lieber anonym bleibende Genossenschafter. Peu à peu, im Kleinklein, soll es vorangehen, was dem Puls der Genossenschaft entspricht. Auf dem Hof atmen alle Ritzen Gelassenheit, während ringsum in der Stadt die Sanierungsschübe wie Schockwellen über die Viertel hinwegfegen. Die Feinkost ist eine Insel der anderen Zeit, auch wenn deren Zahn tief an der Baustruktur nagt. Wie gefährdet ist die Substanz?

Ein Leipziger Wahrzeichen

Eigentum verpflichtet, mahnt nicht nur das Grundgesetz. Noch mehr: Die Feinkost ist mit der berühmten Löffelfamilie ein Wahrzeichen der Stadt Leipzig. Angela Seidel erinnert daran, dass damit Verantwortung einhergeht. »Ich erwarte von jemandem, der so eine fette, denkmalgeschützte Immobilie besitzt, dass er Bescheid weiß, was zu tun ist. Der Holzschutzgutachter hat seine Leute in Teile des Südflügels nicht hineingelassen, weil er sie für einsturzgefährdet hält. Und im Gebälk seien verschiedene Schädlingslarven und auch der echte Hausschwamm aktiv. Wenn das Bauordnungsamt da durch gehen würden, würden sie sicher die Hände überm Kopf zusammenschlagen.« Das Holzschutzgutachten liegt dem kreuzer vor. Auf Anfrage teilte das Bauordnungsamt mit, von anzeigepflichtigem Hausschwammbefall sei ihm nichts bekannt.

Quo vadis, Feinkost? Wohin gehst du? Das ist derzeit nicht zu beantworten. Der Tempomat jedenfalls bleibt auf Schildkrötenmodus und Optimismus. »Das Dach«, sagt Mareike Schade, »wird uns schon nicht über dem Kopf einstürzen.«


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