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Politik

Das Corona-Experiment

Die plötzliche Öffnung der Grundschulen ab Montag sorgt für Kritik, Gericht setzt Präsenzpflicht vorerst aus

  Das Corona-Experiment | Die plötzliche Öffnung der Grundschulen ab Montag sorgt für Kritik, Gericht setzt Präsenzpflicht vorerst aus

Zwei Monate nach ihrer Schließung öffnen am Montag Sachsens Grundschulen und Kitas wieder für alle. Was eigentlich ein Grund zur Freude für Kinder und Erwachsene sein müsste, löst unter Teilen der Eltern- und Lehrerschaft Beklemmung aus.

Anders als alle anderen Bundesländer bricht der Freistaat die schrittweise Öffnung der Grundschulen ab und setzt auf Vollbetrieb. Alle Kinder einer Klasse – in Leipzig sind das bis zu 28 Kinder – sollen wieder zusammen lernen. Abstandsregeln innerhalb der Klasse entfallen, was durch eine strikte Trennung von allen anderen Gruppen im Gebäude und auf dem Schulhof kompensiert werden soll. Auch international ist Sachsen damit eine Ausnahme. Einzig das kleine und dünn besiedelte Island verzichtet seit zwei Wochen ebenfalls auf Gruppenbeschränkungen und Abstandsregeln in den Grundschulen. Allerdings kommt die Atlantikinsel im Verhältnis zu Deutschland auf die 4,5-fache Menge an Corona-Tests, womit ein deutlich genauerer Überblick über die Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung gegeben ist. Außerdem verharrt Island bei Neuinfektionen schon seit einem Monat nahe der Nullgrenze.

»Plötzlich ist alles wieder anders und egal«»Ich fühle mich mulmig und überrumpelt«, sagt Cindy Deckert aus der Südvorstadt. »Nicht weil ich Angst vor Corona habe, sondern weil die Situation sich täglich ändert.« Gerade erst hat sich ihr jüngster Sohn, der die vierte Klasse der Kurt-Masur-Grundschule besucht, an den Wiedereinstieg gewöhnt. Die vierten Klassen waren innerhalb des ursprünglichen, behutsamen Öffnungskonzepts als erste an die Grundschulen zurück gekehrt. Das war vor zwei Wochen. Die Klasse von Deckerts Sohn wurde in drei Gruppen geteilt. Das habe bei ihrem Jungen anfangs für Tränen gesorgt, weil ein Freund nicht in seiner Gruppe war und die Subklassen strikt voneinander getrennt wurden. Umso mehr ärgert sie sich jetzt: »Die Lehrer waren vorbereitet und haben die Schüler total gut belehrt. Aber mit der großzügigen Platzkapazität war es trotz der vielen neuen Regeln nicht stressig für die Kinder. Man hat so viel Kraft darin investiert, den Kindern zu erklären, warum sie Abstand halten müssen, auch Freunde nicht treffen können. Und nun muss man sagen, plötzlich ist alles wieder anders und egal.«

[caption id="attachment_88205" align="alignright" width="320"] Cindy Deckert und Christin Melcher im Gespräch Foto: Carina Linge[/caption]

Wir haben Deckert mit Christin Melcher zusammengebracht. Die Grüne ist bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und nimmt als Mitglied des Fraktionsvorstandes an Gesprächen der schwarz-rot-grünen Regierungskoalition teil. Auch sie hat einen Sohn in der vierten Klasse, die in den vergangenen Wochen in zwei Gruppen aufgeteilt war. Sie sieht der Gesamtöffnung am Montag zuversichtlich entgegen, weil nun endlich wieder alle Kinder regelmäßig Kontakt zu den Lehrkräften hätten: »Wir haben auch wegen des Kinderschutzes sehr dafür gekämpft. 60 Prozent der Kindesmisshandlungen werden von Einrichtungen gemeldet. Das fällt im Moment weg. Ich möchte nicht wissen, was da gerade los ist.«

Abstandsregeln: »Nicht praktikabel«Deckert, die als Tagesmutter arbeitet, denkt nicht anders. Sie stört, dass den Grundschulen so wenig Flexibilität zugebilligt wird.

CINDY DECKERT: »Mir ist unverständlich, warum in den weiterführenden Schulen die Aufteilung der Klassen und Homeschooling parallel möglich ist, aber in unserer Grundschule 500 Kinder gleichzeitig in einem Gebäude sein sollen.«

CHRISTIN MELCHER: »Es heißt nicht, dass alle Klassen gleichzeitig in der Schule sein müssen. Das steht nicht in der Verordnung. Es kann gestaffelt werden, auch in der Grundschule. An der Schule meines Sohnes wird zeitlich versetzt bis in den Nachmittag hinein unterrichtet.«

Das funktioniert aber nur dort, wo das Personal nicht knapp ist, in Leipzig eher die Ausnahme. Kultusminister Christian Piwarz nannte Abstandsregeln und Schichtsystem »nicht praktikabel«, als er am 8. Mai den »Paradigmenwechsel« bei den Grundschulen auf einer Pressekonferenz ankündigte. Die Anordnung der Präsenzpflicht für alle Grundschüler bezeichnete der CDU-Politiker als Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Neben dem Infektions- und Gesundheitsschutz stünden die zahlreichen Forderungen aus Elternhäusern und Wirtschaft, die Schulen wieder zu öffnen. Vor allem aber bräuchten kleinere Kinder direkten Unterricht und unmittelbaren Kontakt zur Lehrerschaft, schreibt seine Pressesprecherin dem kreuzer: »In der Grundschule werden die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen und Schreiben gelegt, darauf baut alles Weitere auf.«

Brandbriefe aus den SchulenÜberrumpelt hat Piwarz mit seinem Öffnungskonzept auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie waren vorher nicht eingebunden gewesen. Zwar hatte der Minister eine Expertengruppe aus zwei Medizinern und Vertretern kommunaler und sozialer Spitzenverbände eingesetzt, Praktikerinnen und Praktiker aus den Schulen oder zumindest die Lehrergewerkschaften waren nicht dabei. Zwei Lehrerinnen der Kurt-Masur-Schule, deren Kollegium sich beim Minister in einem offenen Brief über seinen abrupten Strategiewechsel beschwert hat, sagen, sie hätten erst durch die Pressekonferenz davon erfahren. Sie wollen anonym bleiben, weil sie der wenig kritikoffenen sächsischen Kultusbürokratie nicht trauen.

LYDIA GERNER (Name geändert): »Der Start mit den vierten Klassen fühlte sich okay an. Die Kinder achten auf die Abstandsregeln, so wie es bei Kindern funktionieren kann. Wir hätten uns gewünscht, dass jetzt die nächste Klassenstufe kommt oder dass jede von uns ihre halbe Klasse nimmt und wir einen wöchentlichen Wechsel machen.«

RITA SEIBERT (Name geändert): »Ich habe das mit der Vollöffnung der Grundschulen bis Mittwoch gar nicht ernst genommen. Ich habe gedacht, dass das Ministerium sagt, wir nehmen das zurück, weil so vieles ungeklärt ist. Wie sollen wir den Kindern vermitteln, dass sie in ihrer Freizeit die Abstände halten sollen, aber in der Schulklasse nicht?«

LYDIA GERNER: »Es sind auch ganz praktische Probleme. Die Kinder müssen mehrmals Händewaschen – früh, vor und nach dem Frühstück, vor und nach der Hofpause. Wenn verschiedene Klassen sich nicht begegnen sollen, muss das im Klassenraum passieren. Wir haben ein Waschbecken – jedes der 28 Kinder braucht 30 Sekunden für einmal Händewaschen, also zweimal »Happy Birthday«-Singen. Das geht schon gar nicht.«

Auch die Lehrerinnen und Lehrer der Geschwister-Scholl-Schule haben dem Minister geschrieben. Die Grundschule hat den höchsten Anteil an Förderkindern in Leipzig. Das Kollegium rechnet Piwarz vor, wie praxisfern sein Konzept der Vollöffnung mit voneinander getrennt zu haltenden Klassen ist:
»Wir haben an unserer Schule 385 Kinder, 16 Klassenräume, 2 Mädchentoiletten und 1 Jungentoilette, 1 Hofeingang, 1 Schulhauseingang. Wie sollen sich unter diesen Bedingungen die Kinder nicht im Schulhaus begegnen? Wie sollen die Kinder spielen und toben, wenn uns nur ein kleiner Hof zur Verfügung steht, den wir uns in Abgrenzungen mit drei weiteren Klassen teilen müssen, damit jedes Kind wenigstens einmal an der frischen Luft war? Wie sollen wir 16 Klassen ohne Begegnung essen gehen lassen mit nur 2 kleinen Speiseräumen (a 40 qm)?«
Doch Lehrerinnen und Lehrer fürchten sich auch vor Ansteckung. Die Geschwister-Scholl-Schule schreibt: »Wo bleiben unsere FFP2-Masken, um uns vor der großen Ansteckungsgefahr zu schützen? Viele Kolleginnen haben deshalb Sorge um die Gesundheit aller Beteiligten und Angehörigen!« Tatsächlich könnte das Risiko nicht gering sein, wenn die Klassenzimmer voll sind, Abstände fehlen und alle über Stunden dieselbe Raumluft einatmen. Gerner fühlt sich deshalb einem sehr waghalsigen Experiment ausgesetzt: »Ich hoffe nicht, dass infizierte Kinder drin sitzen. Vielleicht eines, das schwerer erkrankt als die Masse. Oder es passiert etwas in der Familie. Dieses Problem hat jemand, der in einem Amt sitzt, nicht. Der hat nicht den direkten Kontakt.«

»Langsame Durchseuchung«Medizinischer Hauptberater des Kultusministers ist der Dresdner Uni-Professor und Kinderarzt Reinhard Berner. Der Infektiologe hatte Ende April vorgeschlagen, die Sommerzeit in den Kitas für eine langsame Durchseuchung zu nutzen, um eine drohende zweite Infektionswelle im Herbst abzumildern. Sein Vorschlag: Feste Gruppen aus fünf bis sieben Kindern. Diese Idee fußte indirekt auf der Annahme, ein nennenswerter Teil der Bevölkerung habe schon Corona-Antikörper gebildet. Tatsächlich sind selbst Länder, die deutlich stärker als Deutschland betroffen sind, weit von der Herdenimmunität entfernt: Eine repräsentative Testung von 70.000 Menschen in Spanien stellte nur bei fünf Prozent der Bevölkerung Antikörper fest. Nun wird Berners Idee sogar mit wesentlich größeren Gruppen in den Grundschulen umgesetzt. Er verwies in der Pressekonferenz mit dem Kultusminister darauf, dass Kinder nicht ansteckender seien als Erwachsene, »wahrscheinlich sogar weniger«. Ob Kinder Erwachsene nicht infizieren, wie er ursprünglich unter Verweis auf andere Länder behauptet hatte, lässt sich seriös kaum beurteilen. Dazu ist die Datenlage noch viel zu diffus, fallen die Ergebnisse diverser Studien, deren Fallzahlen oft gering sind, viel zu widersprüchlich aus. Auf kreuzer-Anfrage stellte das Kultusministerium klar: »Es geht nicht um ein Konzept »Durchseuchung«, sondern um das Recht der Kinder auf Teilhabe und Bildung. Ohne die Systemänderung/Konzeptänderung wären die meisten Kinder für eine sehr lange Zeit von Bildung und sozialen Kontakten ausgeschlossen gewesen.«

Berner selbst hatte die Bildung fester, großer Gruppen, die strikt von anderen getrennt würden, auf der Pressekonferenz so begründet: Angesichts der Pandemie-Lage brauche man ein längerfristig tragbares Konzept. Wenn immer die gleichen Personen zusammen seien, ließen sich Infektionsketten besser verfolgen und im Fall einer Ansteckung müsste nur die betroffene Klasse aus der Schule genommen werden.

Lockerung first, Analyse späterFür alle ist die jetzige Situation Neuland, jeder Lockerungsschritt ein Experiment. Warum aber ein Super-Experiment, bei dem Abstandsregeln und Gruppengrößen keine Rolle mehr spielen, ohne vorherige gesellschaftliche Debatte beginnt, ist nur bedingt zu erklären. Viele Eltern nahmen erst einmal lediglich wahr, dass die Schulen endlich wieder öffnen. Aber auch zornige Briefe von Lehrern wurden nicht beantwortet und die Kritik der oppositionellen Linken und der Lehrergewerkschaft GEW drang nicht durch. Dabei wäre in den vergangenen Wochen – die erste Akut-Phase der Pandemie scheint abgeklungen – durchaus Zeit gewesen. Stattdessen setzt Kultusminister Christian Piwarz auf eine expertokratische Lösung, ohne die Beteiligten und Betroffenen einzubeziehen. Statt eines verzahnten Gesamtpakets wirkt sein Vorgehen wie »Lockerung first, Analyse später«. So verzichtet Sachsen entgegen den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts auf ein konsequentes, zeitnahes Monitoring mit regelmäßiger, systematischer Testung. Zwar sind Begleitstudien durch die Universitäten Leipzig und Dresden vorgesehen, doch muss erst einmal der Haushaltsausschuss des Landtages die nötigen Gelder bewilligen. Lehrerinnen und Lehrer können sich ab 1. Juni einmal pro Woche testen lassen. Obwohl der Freistaat nicht einmal ein Drittel seiner Testkapazitäten ausschöpft, blieben die Schulen bisher außen vor. Die Gründe mag das Kultusministerium nicht näher ausführen: »Hier sind wir auf Partner des Gesundheitswesen angewiesen, die aus organisatorischen Gründen uns einen Start erst ab 1. Juni zusichern konnten.«

Lehrerin Gerner hätte sich schon gern während der Notbetreuung einmal testen lassen, oder wenigstens vor Beginn des Vollstarts. »Eigentlich wäre es schön, wenn alle Kinder und das Personal vorher getestet werden und es danach losgeht«, sagt sie. »Da würden wir uns alle ein bisschen wohler fühlen.« Ihre Kollegin Seibert kommentiert nüchtern: »Weil wir die ersten sind, die das so machen, ist es wirklich ein Experiment. Das kann klappen, es kann aber auch nicht klappen. Wenn es eben nicht klappt, dann sind wir in zwei Wochen wieder alle zu Hause.« Christin Melcher, die Grünen-Abgeordnete, verteidigt die Zurückhaltung ihrer Partei: »Im Kabinett redet man sich nicht in die jeweiligen Ressorts rein.« Und das Parlament sei nicht einbezogen gewesen, es handle sich erst einmal um »ordinäres Regierungshandeln.« Die wachsende Kritik der vergangenen Tage sei aber bei ihr angekommen, sagt die Bildungspolitikerin. »Deshalb haben meine SPD-Kollegin und ich am Donnerstag an den Minister geschrieben, er möge bei der Festlegung, dass an Grundschulen nur im kompletten Klassenverband unterrichtet wird, nachsteuern. Die Schulen brauchen möglichst viel Entscheidungsbefugnis. Der Staatsminister am Elbufer in Dresden kann nicht wissen, wie die konkreten Verhältnisse vor Ort sind.« Die Antwort steht noch aus.

Gericht setzt Präsenzpflicht ausAm Ende sind es möglicherweise wieder mal die Gerichte, die dem Staat Grenzen setzen. Vorgestern gab das Verwaltungsgericht Leipzig dem Eilantrag von Eltern statt, die ihren 7-jährigen Jungen wegen des Wegfalls von Abstandsregeln nicht in die Schule schicken wollten. In der Begründung, die dem kreuzer vorliegt, schreiben die Richter, das Land habe nicht erklären können, warum fast alle Schutzkonzepte einen Mindestabstand enthielten, das für Grundschulen aber nicht. Das Kultusministerium will dagegen Widerspruch beim Oberverwaltungsgericht einlegen, wie es gestern in einem Brief an die Eltern mitgeteilt hat. Zugleich informierte der Minister, dass die Präsenzpflicht für Kinder bis zum 5. Juni ausgesetzt ist. Wer es leisten und einrichten kann, darf seinen Nachwuchs weiter zuhause Schule machen lassen.


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2 Kommentar(e)

Cora 18.05.2020 | um 08:09 Uhr

Ja, Schule und Kita sind aus sehr vielen Gründen wichtig - die Gesundheit zu schützen ist wichtiger. Deshalb die Petition für verantwortungsvolle Schul- und Kita-Öffnung mit kleineren Gruppen als 25+: https://www.openpetition.de/petition/online/verantwortungsvolle-schul-und-kita-oeffnungen-gruppengroessen-begrenzen

Vater Staat, Mutter berufstätig 18.05.2020 | um 09:19 Uhr

Ich habe selber 2 Kinder in sächsischen Schulen und frage mich: Hat da SM Piwarz nicht seine Kompetenzen überschritten? Die Entscheidung, ob ich krank werde kann doch nicht der Minister per Allgemeinverfügung festlegen. So etwas braucht einen öffentlichen Diskurs, ausreichend Test und Untersuchungen. Auch die Meinung eines Professors und Kinderarztes ist noch lange kein seriöser wissenschaftlichen Beleg für ein Druchseuchungsexperiment. Das ist wieder typisch von oben befehlen und dann ist es halt zu Spät. Vielen Dank auch SM Piwi!!!