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Kultur

Trauern in Weiß

In »Weiß« springt die Melancholie auf den Leser über

  Trauern in Weiß | In »Weiß« springt die Melancholie auf den Leser über

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diese Woche erlebt Literaturredakteurin Linn Penelope Micklitz die Farbe Weiß in all ihren Facetten.

»Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen. Wärest du doch am Leben geblieben, und hättest du all die Jahre statt meiner gelebt.« Tiefe, allumfassende, alles durchdringende Traurigkeit liegt in dieser verzweifelten Bitte. Han Kangs neues Buch »Weiß« ist die eigene Geschichte, die die koreanischen Booker-Preisträgerin verarbeitet hat – den Tod der Schwester wenige Stunden nach der Geburt. Das Trauma wiegt schwer und die Erzählerin gesteht: »Ich habe es noch nicht geschafft, mit mir ins Reine zu kommen.«

[caption id="attachment_119471" align="alignright" width="228"] Cover: Aufbau Verlag[/caption]

Was zunächst formal und konzeptuell spannend ist (kurze Kapitel der Erinnerung und Beobachtung, überschrieben mit weißen Gegenständen), gerät anfangs durch Worte wie Seele, Flügel und Schmetterling in die Fahrwasser von Kitsch und Distanzlosigkeit. Doch der Text traut sich, die Farben so konsequent aus dem Bild zu schieben, dass die absolute Melancholie überspringt. Nie war ein Text über Hemden, Nebel und weiße Hunde trauriger. So schlicht wie ergreifend steht hinter all dem nur ein Faktum: Wäre ich nicht am Leben, wärst du noch da. Die Endlichkeit des Lebens als sein größter Makel. Die Reinheit des Lebens, des am Leben Seins – zerstört durch Krankheit, Tod, Verfall.

Das unmöglich gemachte Leben der großen Schwester, die ins weiße Hemd von der Mutter eingenäht, vom Vater begraben wurde, scheint durch in allem Weiß dieser Welt. Han Kang vermag davon so ehrlich, notfalls auch kitschig zu erzählen, dass die Farbe Weiß fortan auch für den Leser nicht weniger ausstrahlt als das Gefühl allumfassender Traurigkeit. Der Prozess des Trauerns greift nicht, die Traurigkeit ist zum unendlichen Zustand geworden. Schuld und Sehnsucht verbinden sich zu einem Versprechen: »In allen weißen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen.«


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