Wieder wurde aus dem Umfeld von »Querdenken« nach Leipzig mobilisiert. Der Ort scheint dabei kein Zufall. Warum die Wahl auf Leipzig fiel und welche Intention dahinter steckt, erklärt David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Miteinander e. V. im Interview mit dem kreuzer. Ein Gespräch über historische Aneignung und eine verfehlte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
kreuzer: Am 07. November organisierte die Gruppe »Querdenken« aus Stuttgart eine Demo in Leipzig, zu der sie 45000 Menschen mobilisieren konnte. Zwei Wochen später wurde erneut zum Protest aufgerufen, dieses Mal kamen etwa 1000 Menschen. Die Anmelder sind ebenfalls aus dem Umfeld von »Querdenken«. Was sind das für Menschen, die sich da versammeln?David Begrich: Ich verstehe das als Protestplattform, auf der sich sehr unterschiedliche Menschen wiederfinden, die sich zuvor nicht zwingend in einer politischen Strömung wiedergefunden haben. Sie alle eint die Auffassung, man habe es im Moment mit einer Diktatur-Situation zu tun, derer jetzt abgeholfen werden müsste. Deshalb finden sich dort eben auch Menschen zusammen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben: Leute aus der Reichsbürgerszene ebenso wie Menschen, die alternative Heilmethoden favorisieren. Außerdem Menschen, die eine Impfpflicht kritisieren oder Leute, die aus der Neonaziszene und der rechtsextremen Szene kommen. Die sind da themen- und anlassbezogen scheinbar ein symbiotisches Verhältnis eingegangen.
kreuzer: Bei so einer Mischung an Menschen aus den verschiedensten Milieus liegt da nicht auch die Gefahr des Schulterschlusses mit rechtsextremen Gruppierungen? Bergich: Einen Schulterschluss würden die Demonstranten bestreiten. Aber in dem Moment, wo ich allerdings gemeinsam auftrete, vielleicht auch aufeinander Bezug nehme, muss ich mich natürlich zueinander ins Verhältnis setzen. Entweder muss ich mich dann abgrenzen und inhaltlich auseinandersetzen. Oder ich muss sagen, ich habe kein Problem damit, dass Rechtsextreme auf der gleichen Veranstaltung sind und ich glaube, Letzteres ist der Fall: Dass die meisten der Menschen, die dort auftauchen, eben kein Problem mit extrem rechten Positionen haben.
kreuzer: Warum eigentlich nicht?Begrich: Seit 2015 ist eine Enttabuisierung extrem rechter Deutungsangebote zu beobachten, die ja schon bei Pegida zu beobachten war. Das setzt sich jetzt fort. Offen rechtsextreme Positionen werden vielfach als ein legitimes Deutungsangebot unter anderen verstanden. Von dieser Normalisierung profitiert die sowohl die organisierte extreme Rechte.
[caption id="attachment_119536" align="alignright" width="229"] David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Miteinander e.V. Sachsen-Anhalt; Bild: Offener Kanal Magdeburg[/caption]
kreuzer: Die »Querdenker« behaupten, sie sind im Widerstand. Im Internet kursiert zurzeit ein Video von einer »Querdenken«-Demonstration, auf der eine junge Frau sich mit Sophie Scholl vergleicht, weil sie seit Monaten im Widerstand sei. Hinkt dieser Vergleich nicht deutlich?Begrich: Die Frage ist ja, was ist da in der Auseinandersetzung in der Geschichte des Nationalsozialismus schief gelaufen? Bei dieser Frau und natürlich auch bei anderen, die mit einer Imitation des Judensterns durch die Straßen ziehen, findet eben eine Selbstheroisierung statt. Sie selbst sehen sich in einer Parallelität der Opfer des Nationalsozialismus. Das ist absurd und auch moralisch fragwürdig. Das stellt natürlich auch infrage, auf welche Art und Weise sie selbst sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Ich will sagen: Die Qualität der historisch-politischen Bildung zum Thema Nationalsozialismus ist damit nicht in Frage gestellt. Vielmehr wirft das ein Schlaglicht darauf, wie die Geschichte des Nationalsozialismus und des Widerstands dagegen im Kontext von »Querdenken« instrumentalisiert wird.
kreuzer: Die Wahl der Orte für die Demonstrationen scheint nicht ganz zufällig: In Leipzig wird beispielsweise auf die Friedliche Revolution Bezug genommen und behauptet, es würde dort nun zu einer zweiten Friedlichen Revolution kommen. Warum?Begrich: Der Sinn dahinter ist, dass sich der Protest zeitgeschichtlich größer macht, als er ist. Natürlich, eine Bewegung sucht sich Vorläufer, sucht nach historischen Referenzorten, um sich mit ihnen in eine Reihe zu stellen. Es macht doch einen Unterschied, ob ich mich auf dem grauen Parkplatz eines Supermarktes in einer Kleinstadt hinstelle und zum Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen aufrufe oder ob ich das in Leipzig tue, wo ich mich in gewisser Weise in einer historischen Kulisse des Jahres 1989 bewegen kann und ständig sagen kann: ‘Seht her! Wir laufen um den Ring in Leipzig. Wir stellen Kerzen vor der ehemaligen Stasi-Zentrale, der Runden Ecke, ab.' Das folgt den Spielregeln eines historischen Reenactments, einer historischen Reinszenierung.
kreuzer: Ist das nicht eine Form der Aneignung einer ostdeutschen Geschichte von Westdeutschen?Begrich: Es ist jedenfalls interessant, wie Westdeutsche jetzt ostdeutsche Geschichte verstehen. Bisher war es ja so, dass die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft sich eigentlich nicht für Ostdeutschland interessiert hat und der Umbruch der DDR in der Wahrnehmung der westdeutschen auf den Mauerfall reduziert war. Das scheint sich zu verändern. Insofern findet da eine Aneignung statt. Wobei man natürlich auch sagen muss, es sind ja auch Ostdeutsche, die da in Leipzig mitlaufen. Zudem unterliegt die Geschichte des Umbruchs in der DDR ja seit jeher inhaltlichen Deutungskämpfen. Mit der ostdeutschen Protestgeschichte ist kein Eigentumsrecht verbunden. Sie gehört niemandem. Wer sich auf sie bezieht, tut das aus gänzlich heutigem Grund und muss damit rechnen, Widerspruch zu erfahren.
kreuzer: Auch Christoph Wonneberger ist bei der »Querdenken«-Demo am 07. November auf der Bühne aufgetreten. Er ist Pfarrer und bekannt als Koordinator der montäglichen Friedensgebete 1989. Wie kommt es, dass er dort auftritt?Begrich: Ja, das muss man ihn eigentlich selbst fragen, wie das sein kann. Ich halte das für einen tragischen politischen Fehler, dass jemand, der sich wirklich bleibende Verdienste um die DDR-Oppositionsbewegung erworben hat, dass der sich in diesem Kontext wieder findet. Ich kann mir das nicht wirklich erklären. Offensichtlich ist es so, dass Wonneberger die gesellschaftliche Situation ähnlich einschätzt wie »Querdenken«. Das halte ich für falsch. Dennoch ist das natürlich ein Punkt, den man sich genau ansehen muss: Warum es so viele ehemalige DDR-Bürgerrechtler gibt, die in den vergangenen Jahren immer wieder die heutige gesellschaftliche Situation mit jener in der späten DDR vergleichen, wenn es etwa um Meinungsfreiheit geht. Die Behauptung, die Kanzlerschaft Merkels trüge Züge der Honecker-Ära – das erscheint mir zeitgeschichtlich abwegig. Die Parallelisierung der politischen Kultur der Bundesrepublik mit der Repressionsatmossphäre der DDR ist aus meiner Sicht eine politisch motivierte Erzählung der neuen Rechten.
kreuzer: Der Ursprung der »Querdenken«-Demonstrationen bildet eine Gruppe in Stuttgart. Man könnte sagen, es ist ein süddeutscher Import. Können Sie sich erklären, warum die Organisation von hier ausgeht?Begrich: Sicher sagen kann man das nicht. Einer der Gründe könnte sein, dass Anthroposophie, Alternativmedizin, Heilkunde und Teile der Esoterikszene in Süddeutschland stark verankert sind und dort eine breite Basis haben. Das sind ja protesterfahrene und protestaffine Milieus in Südwestdeutschland, die auch sehr artikulations- und reichweitestark sind. Das ist ja noch mal was anderes als das genuin ostdeutsche Protestformat Pegida, dass an dem Versuch des Exports nach Westen gescheitert ist. Man muss jetzt mal noch abwarten, ob die Mobilisierung von »Querdenken« wirklich nachhaltig ist. Das kann man noch nicht nach zwei Demonstrationen in Leipzig beurteilen. Mal sehen, welche Milieus »Querdenken« mittelfristig für anzapfen kann. Es ist ja kein Naturgesetz, dass sämtliche Widersprüche und Probleme, die Corona mit sich bringt , von »Querdenken« monopolisiert wird.
kreuzer: Deutschlandweit wird mobilisiert, ob in Berlin, Hannover oder Leipzig. In den Medien wird von einer »Querdenken«-Bewegung gesprochen. Ist das wirklich so?Begrich: Sozialwissenschaftlich gesehen, würde ich sagen, ja, das ist im Moment eine Bewegung. Aber das ist natürlich eine Frage der Größenordnung. Wenn 40000 Leute auf die Straße gehen, sind die immer noch eine gesellschaftliche Minderheit. Jede Woche sind in der Vor-Corona-Zeit mehr Menschen zu Bundesligaspielen gegangen. Aber man muss sich auch vor Augen führen, dass auch andere soziale Bewegungen wie die Anti-Atomkraftbewegung in der Minderheit war. Das ist auch so ein bisschen die Erzählung, aus der »Querdenken« schöpft, dass sie sagen: 'Wir sind diejenigen, die die Lage begriffen haben und einen Durchblick haben. Wir werden jetzt den Stein in Bezug auf die Corona-Maßnahmen ins Rollen bringen.' Was aus »Querdenken« wird, entscheidet sich in den kommenden Wochen und Monaten. Es entscheidet sich auch dadurch, wie die Pandemie und der gesellschaftliche Umgang damit weitergeht.