Unsere kreuzer-Autorin Sibel Schick ist in Antalya aufgewachsen und lebt seit einiger Zeit in Leipzig. Hier musste sie feststellen, welche Rolle frühere Essgewohnheiten spielen: Sie wurden Teil des Heimwehs. Was aber, wenn das Essen, das man mag, kaum verfügbar ist? An dieser Stelle veröffentlichen wir den Beitrag aus der Februar-Ausgabe (02/21) des kreuzer.
Gebratene grüne Spitzpaprika zum Frühstück, mit Reis gefüllte Muscheln am Strand, selbst gemachter Börek mit frischem Blätterteig aus dem Markt – kaum denke ich an die Vergangenheit, kommen mir meine Lieblingsspeisen in den Sinn. Essen, mit dem ich aufgewachsen bin, das ich aber erst spät wertschätzen gelernt habe. Und zwar, nachdem ich in ein anderes Land zog und vieles nicht mehr gut verfügbar war.
Ich kam in Antalya auf die Welt und verbrachte dort meine Kindheit und Jugend. Das Essen von damals nahm ich nie als eine Besonderheit wahr, weil ich damit aufwuchs. Welch große Rolle die Essgewohnheiten der Region, in der ich lebte, in meinem Leben und für meine Identität spielten, wurde mir erst klar, als das Essen Teil des Heimwehs wurde.
2009 zog ich aus Antalya direkt nach Köln. Nach einem Zwischenstopp in Berlin kam ich 2019 nach Leipzig. Ich
arbeitete weiter in Berlin, wo ich auch nach der Arbeit gut einkaufen konnte, bevor ich den Zug zurück nach Leipzig nahm. In einem türkischen Lebensmittelgeschäft in der direkten Nähe meines damaligen Arbeitsplatzes fand ich
alles, was ich brauchte: getrocknete Minze, mit Salz geröstete Sonnenblumenkerne, Nelken, losen Schwarztee …
Jetzt arbeite ich glücklicherweise beim kreuzer in Leipzig. Auf dem Weg zu meinem neuen Arbeitsplatz gibt es aller-
dings nur westliche Supermärkte wie Edeka, Aldi, Penny und so weiter. Nun, der Ausdruck »westlich« mag ostdeutsche Ohren irritieren. Für mich sind es aber westliche Supermärkte. Es ist eine geografische und kulturelle Tatsache. Bis vor einigen Wochen gab es in Leipzig nicht mal Çiğköfte, was in Berlin und Westdeutschland eine beliebte Hipsterspeise ist. Der erste Leipziger Çiğköfte-Laden sorgte für Euphorie in meiner Diaspora-Chatgruppe. Allerdings liegt er an der Eisenbahnstraße, weit von meiner Wohnung entfernt.
Vor der Pandemie fuhr ich immer wieder an die Eisenbahnstraße. Zum einen, weil einige meiner Freundinnen dort wohnen, zum anderen, weil ich sonst nirgends Baklava, Paprikapaste oder Maden Suyu kaufen kann. Aber während der Pandemie bewege ich mich so wenig wie möglich. Inzwischen ist es eine lästige Angelegenheit, das Essen, das ich gewohnt bin, zu bekommen. Das verursacht eine ständige Unzufriedenheit, eine Unruhe in mir. Denn diese Speisen stillen mein Heimweh – ein wenig.
Die österreichische Autorin Vina Yun schreibt in ihrem Essay »Essen« in dem Sammelband »Eure Heimat ist unser Albtraum«, dass koreanisches Essen für viele Einwanderer und ihre Nachkommen eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich koreanisch zu fühlen. In dem Podcast »Rice and Shine« der vietdeutschen Journalistinnen Vanessa Vu und Minh Thu Tran erzählt der Stargastronom The Duc Ngo, dass vietnamesisches Essen für ihn »ein Stück Heimat« sei.
Sie sind keine Ausnahmen. Maren Möhring, Professorin für vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte an der Universität Leipzig, beschreibt dieses Phänomen in einem Gespräch mit dem Goethe-Institut so: »Gerade nach Flucht oder Migration in ein anderes Land können vertraute Speisen und Getränke dazu dienen, biografische Brüche zu überwinden.«
Weil Essgewohnheiten so ein wichtiger Teil der Identität sind, werden sie auch zur Projektionsfläche gemacht für Hass und Gewalt. So finden sich rassistische Beleidigungen wie »Knoblauchfresser« und »Kümmeltürke« in Songtexten von Neonazi-Bands. Der Attentäter des antisemitischen Angriffs in Halle erschoss eine Person in einem Döner-Imbiss, als er seinen blutigen Plan, betende jüdische Menschen zu erschießen, nicht durchführen konnte. Und die NSU-Morde
wurden von den Medien zynisch als »Döner-Morde« bezeichnet. In der Diaspora Zugehörigkeit und Geborgenheit zu spüren, ist ein menschliches Bedürfnis, das aber zu einer tödlichen Erfahrung werden kann. Wenn alle Optionen dafür in einem einzigen Stadtteil konzentriert sind, ist das fast schon eine Einladung für Angriffe.
Die Aneinanderreihung der Lebensmittelgeschäfte und Restaurants von Betreibern mit Zuwanderungsgeschichte aus dem sogenannten Mittleren Osten an der Eisenbahnstraße, direkt in der Waffenverbotszone, ist eine Ghettoisierung, die einem Erlebnispark ähnelt: Hier haben wir den Wilden Westen und drüben den »Orient«, in dem scheinbar andere Regeln herrschen. Um ihre Geschäfte in anderen Stadtteilen eröffnen zu können, müssen die Betreiber allerdings die Gewissheit haben, dass Leipzig bereit für sie ist. Es ist die Mehrheitsgesellschaft, die die Ghettoisierung brechen muss. So, wie Leipzig heute ist, ist es nicht »bunt« oder »weltoffen«, sondern hat bloß eine Parallelgesellschaft geschaffen.