Vergangene Woche wurden die diesjährigen Nominierten für den Literaturpreis der Leipziger Buchmesse bekannt gegeben: die Liste ist weiß. Autorin Sibel Schick ist sich sicher, es geht um hervorragende Bücher. Allerdings hält sie es im Jahr 2021 nicht mehr für tragbar, in einer Literaturliste die Perspektiven von Minderheiten kategorisch auszuschließen – mit oder ohne Absicht.
Romane wie »Identiti« von Mithu Sanyal oder »Adas Raum« von Sharon Dodua Otoo generieren zur Zeit viel Aufmerksamkeit im deutschen Feuilleton und genießen gute Verkaufszahlen. Für das Sachbuch »Betrachtungen einer Barbarin« wurde die Autorin Asal Dardan mit dem Carolin-Schlegel-Preis der Stadt Jena ausgezeichnet und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Diese waren in Leipzig allerdings keiner Nominierung würdig. Die Literaturredakteurin des Deutschlandfunk Wiebke Porombka kommentiert das wie folgt: »Unter den Belletristik-Nominierungen ist keiner der Romane, über die in diesem Frühjahr viel gesprochen wurde und die man unter dem Stichwort Identitätspolitik subsumieren könnte.« Dies würde wie eine programmatische Entscheidung der Jury erscheinen, so Porombka.
Es greift zu kurz, alles, was nicht-weiße Menschen sagen, schreiben und gestalten, als Identitätspolitik zu bezeichnen. Identitätspolitik steht nicht im Monopol der Minderheiten. Überall, wo die Interessen einer bestimmten Gruppe vertreten oder Geschichten einer bestimmten Gruppe erzählt werden, wird Identitätspolitik gemacht. Auch weiße Menschen können und tun das tagtäglich. So schrieb die Kunstwissenschaftlerin und Autorin Mahret Ifeoma Kupka aus Hessen auf Twitter: »Habe selten einen so ›identitätspolitischen‹ Roman gelesen wie Eurotrash.« Da weiße Menschen aber als die Norm gelten, werden ihre Werke und Worte nicht als identitätspolitische Abweichung abgestempelt. Eurotrash von Christian Kracht ist in Leipzig in der engen Auswahl.
Egal, um welche benachteiligte Gruppe es geht, deren Ausschluss kritisiert wird, die Reaktion lautet oft erst mal: Es gehe nur um Inhalte. Das wäre unter idealen Umständen auch so. In einer Welt, in der niemand diskriminiert wird und in der es keine strukturellen Ausschlüsse gibt, zählt nur das Gelieferte. Diese Welt existiert aber nicht einmal in Märchen.
Außer Konkurrenz In der deutschsprachigen Literatur sind nicht-weiße Menschen unterrepräsentiert. Das liegt zum einen daran, dass die Branche von bildungsbürgerlichen Kreisen enorm dominiert wird. Die Entscheidungsträger in Agenturen und Verlagshäusern können sich viel mehr mit ebenso bildungsbürgerlichen Autoren bzw. ihren Geschichten und Perspektiven identifizieren. Davon können auch nicht-weiße Menschen, die akademisiert sind, profitieren. Allerdings werden jene Menschen, die von Rassismus betroffen sind, im deutschen Bildungssystem benachteiligt: Studien belegen, dass sie bei gleicher Leistung schlechtere Noten und weniger Gymnasialempfehlungen erhalten. Das senkt ihre Chancen für höhere Bildungsabschlüsse und ihren Aufstieg.Hinzu kommt, dass nicht-weiße Menschen mit dem gesamten Rest der sehr selektiven und exklusiven Literaturwelt gar nicht in Konkurrenz stehen. Da herrscht ein Quotenverständnis. Das zeigt sich darin, dass die Nominierung mehrerer nicht-weißer Autoren für einen Literaturpreis bloß eine radikale Ausnahme darstellt – in der Regel gibt es einen Platz frei für alle. Sie werden also teilweise mit Menschen, mit denen sie nicht das Geringste gemein haben, in eine Schublade gesteckt, und müssen ihr »Alleinstellungsmerkmal« beweisen. So treffen also zwei strukturelle gesellschaftliche Probleme – Klassengesellschaft und Rassismus – aufeinander.
Bloße Einbildung? Schön wärs.»Literatur kennt keine Quoten«, zitiert der Mitteldeutsche Rundfunk die Berliner Zeitung und berichtet, dass dieses Jahr in Leipzig mehr Autorinnen denn je nominiert wurden. Das ist natürlich nicht nur schön, sondern auch beruhigend: Frauen wurden historisch von der Literatur ferngehalten, haben entweder heimlich oder unter männlichem Pseudonym schreiben müssen. So konnten sie die Früchte ihrer Arbeit nicht genießen, nicht einmal für sich beanspruchen. Allerdings geht es dabei um weiße Frauen.
Der Literaturpreis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 verliehen. Seit 16 Jahren wurden insgesamt ganze fünf (5) Schriftsteller, die nicht weiß sind, für die Kategorien Sachbuch und Belletristik nominiert. Diese fünf Schriftsteller kommen aus unterschiedlichsten Verhältnissen und haben verschiedene Geschichten und Biografien, aber eins haben sie gemein: Es sind Männer.
Seit der Gründung des Literaturpreises 2005 wurde in Leipzig keine einzige deutschsprachige Autorin of Color für den Literaturpreis nominiert, das bestätigen auch die Pressesprecherin der Leipziger Buchmesse und der aktuelle Juryvorsitz dem kreuzer gegenüber. Dabei gebe es dieses Jahr in allen beiden Kategorien für deutschsprachige Literatur genügend Auswahl. Denn es ist ja nicht so, als könnten Frauen, die von Rassismus betroffen sind, nicht gut schreiben. Und auch die Literaturwelt ist im Wandel.
Reiner Zufall? Schwer zu glauben, und erfahrungsgemäß wäre es eine realitätsferne Behauptung. Da es sich um Strukturen und nicht individuelle Vorlieben handelt, können sie nie ganz ausgeschlossen werden. Traurig ist allerdings, dass gesellschaftlicher Wandel in Leipzig anscheinend erst verspätet ankommt.