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Kultur

Literarisches Füllmaterial

Autor Clemens Böckmann über ein verschüttetes Erbe

  Literarisches Füllmaterial | Autor Clemens Böckmann über ein verschüttetes Erbe

Bei einer Forschungsreise stieß der Leipziger Autor und Herausgeber Clemens Böckmann in Graz zufällig auf die Texte eines dichtenden Skispringers. Der kreuzer sprach mit ihm über das Freilegen eines verschütteten literarischen Erbes und das Buch, welches 2020 daraus entstand.

kreuzer: Sie sind unerwartet auf Alvaro Maderholz Texte gestoßen, als Sie gerade eine Pause von Ihren Bergbau-Forschungen machten? Was war passiert? Böckmann: Der Initialmoment fand im Spätsommer 2017 statt. Ich war mit einigen Kolleginnen und Kollegen in Graz für einen Forschungsaufenthalt. Wir nutzten einen freien Tag und besichtigten die Skisprungarena Eisenerz — Eisenerz ist ein kleiner Ort in der Steiermark. Früher gab es hier mal eine große Bergwerksindustrie, diese ist aber im Laufe der Jahre immer weiter abgebaut worden. Am Rande der Skisprungschanze sprach mich ein älterer Herr an – der Hausmeister der Skisprungschanze und vom Skisprunginternat Eisenerz. Er erzählte mir dann, dass es früher einen Schüler auf dem Internat gegeben habe, der ebenfalls geschrieben habe. Da war meine Neugier natürlich geweckt.

kreuzer: Wie kam es zur Entscheidung, dass diese Texte veröffentlicht werden müssen? Böckmann: Ich teilte mir zu der Zeit einen Arbeitsraum mit Chris Michalski, Paul Jeute und Martina Lisa. Sie haben also immer auch mitbekommen, wo ich mit meiner Recherche gerade stand. Da war natürlich auch schnell klar, dass wir dieses Buch gemeinsam machen. Der Verlag trottoir noir hat dann auch direkt sehr positiv reagiert. Einen dichtenden Skispringer: eine Rarität – als hätte ich ihn mir ausgedacht.

kreuzer: »Pinguin in der Wüste«, »Vogelstrauß auf dem Eis« — was sagen diese Sprachbilder aus seinen Texten über Maderholz? Was wissen wir über sein Leben? Böckmann: Ich wäre vorsichtig damit, aus diesen Zeilen direkt Rückschlüsse auf Alvaro zu ziehen. Für den Band »Sprigner Innen« wird quasi ein Lyrisches Ich erfunden, dass der Leserin und dem Leser vorgestellt wird und dessen Perspektive, Gefühle und Wünsche beschrieben werden. Über Alvaro selbst wissen wir nicht viel. Er, ursprünglich aus Chile, soll 1974 mit seiner Mutter in die Steiermark gekommen sein, 1980 wurde er eingeschult auf das Skisprunginternat Eisenerz. Trotz einiger sportlicher Erfolge beendete er seine sportliche Karriere 2002 und arbeitete im Anschluss im privaten Pflegedienst seiner Mutter. 2014 hat er einen tödlichen Autounfall.

kreuzer: Maderholz schrieb auf Deutsch, Sprachunsicherheiten sind sichtbar. Was vermuten Sie, warum er sich dennoch für das Deutsche entschied? Böckmann: Aller Ungelenkigkeiten zum Trotz ist es die Sprache, mit der Alvaro aufwuchs. Seine Mutter sprach auch Spanisch mit ihm, aber es war die Sprache seines Großvaters, Franz Maderholz, die Alvaro als erstes befähigte zu lesen und zu schreiben. Auf Deutsch zu schreiben war für ihn sicherlich auch eine Abgrenzung gegenüber seinem Onkel, Carlos Ramirez Hoffmann. Dieser protofaschistische Dichter, der in den 70er Jahren einige Berühmtheit in Chile erlangte, kann in der Geschichte sowohl als künstlerischer Mentor als auch als Antagonist Alvaros verstanden werden.

kreuzer: »Dieser Gedichtband ist der Beginn der Freilegung des Werkes von Alvaro Maderholz«, schreiben Sie im Nachwort — Was wird folgen? Böckmann: Tatsächlich ist es mir gelungen in den letzten Monaten ein weiteres Gedicht von Alvaro zu rekonstruieren. Es bestand aus mehreren Versatzstücken, die über unterschiedliche Notizhefte aufgeteilt waren. Das Langgedicht Zu Wasser ist zwischen dem 8. und 10. Januar 2002 entstanden, wenige Tage vor Maderholz' letztem Skisprungwettkampf in Planica am 12. Januar 2002. Er belegte bei dem Wettkampf den sechzehnten Platz und beendete im Anschluss, wie vorher geplant, seine sportliche Karriere. In Zu Wasser durchstreift Alvaro eine ihm unbekannte Stadt. Mehrere Straßennamen und Ortsbeschreibungen deuten allerdings daraufhin, dass es sich um Lloret de Mar handelt. Bemerkenswert ist, dass Alvaro den spanischen Küstenort zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts einzig aus Büchern, Fernsehsendungen und den Beschreibungen seines Onkels, Carlos Ramirez Hoffmann kannte.

kreuzer: Maderholz wurde nur 41 Jahre alt und arbeitete zuletzt als Pfleger. Hatte er nicht nur das Skispringen sondern auch das Schreiben vollständig aufgegeben? Böckmann: Ganz im Gegenteil. Die meisten seiner Texte, Gedichte, Notizen oder Skizzen stammen aus der Zeit nach dem Ende seiner Karriere. Einige sind allerdings auch nicht datiert. Die Freilegung seiner Texte befindet sich noch immer sehr am Anfang und eine Aufteilung oder Kategorisierung einzelner Phasen lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vornehmen. Es ist wie an der Sprungschanze: Ich weiß nicht was kommt. Der K-Punkt ist noch nicht erreicht. Zur Zeit arbeite ich weiter an der Biographie von Alvaro. Da sind noch viele Fragen offen. Desweiteren plane ich, gemeinsam mit dem ceok-Kollektiv (Die Edition ceoK ist ein Imprint des Verlags Trottoir Noir, das sich der Publikation ungewöhnlicher Werke der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur widmet. AdR), eine Lesereise für den kommenden Winter. Zusammen wollen wir an die Skisprunginternate und zu den Wettkampfstätten, um dort die Lyrik Alvaros vorzustellen. Im Grunde genommen gehören die Gedichte auf die Skisprungschanze und in den Schnee, als literarisches Füllmaterial zwischen die eigentlich wichtigen Wettkämpfe. Denn das wollen wir wissen: wer springt am weitesten ohne Verletzung.


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