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»Ich will nicht, dass Leipzig wie East London wird«

Kiki Hitomi über die Gemeinsamkeiten japanischer und jamaikanischer Musik und Unterschiede zwischen Leipzig und London

  »Ich will nicht, dass Leipzig wie East London wird« | Kiki Hitomi über die Gemeinsamkeiten japanischer und jamaikanischer Musik und Unterschiede zwischen Leipzig und London

Kiki Hitomi taucht mit Baseballcap und roter Jogginghose in der Redaktion auf. Die international erfolgreiche Undergroundmusikerin produziert in wechselnden Besetzungen und Bands laute, knallbunte und mördermäßig basslastige Musik, die sich aus so unterschiedlichen Einflüssen wie Reggae, Videospielsounds, Dubstep und japanischem Schlager speist. Sie gestikuliert ausladend, während wir mit ihr über ihren langen Umzugsweg von 
Osaka über London und Berlin nach Connewitz, den Kaltstart in die Musik mit Mitte 30 und über ihre Zusammenarbeit mit der Leipziger Hochkultur reden.

kreuzer: Wie kam es dazu, dass Sie heute in Leipzig leben? Kiki Hitomi: Von 1993 bis 2012 habe ich in London gewohnt. Dort wurde es einfach immer teurer: Stellen Sie sich Berlin vor – nur zehnmal schlimmer. Dort als Undergroundmusikerin zu leben, war hart. Zudem hatten zu der Zeit alle meine japanischen Freunde große Probleme damit, ihre Visa in Großbritannien zu verlängern, deswegen kam es dann zu diesem Exodus meiner japanischen Freunde nach Berlin. Die meinten: »Kiki, du musst herkommen, die Wohnungen sind riesig!« Ich war dann 2012 sehr oft dort, bin auf Partys gegangen, habe selbst welche veranstaltet, bin mit King Midas Sound, meiner Band mit dem Produzenten The Bug, im Berghain aufgetreten, Fahrrad gefahren. Der Sommer war schön und ich dachte mir: »Wow, ich muss hier leben.« Schließlich habe ich für eine meiner Partys Disrupt (DJ und Produzent, Anm. d. Red.) vom Leipziger Label Jahtari gebucht … heute bin ich mit ihm verheiratet. In dieser Nacht kamen wir ins Gespräch, unter anderem über meine Idee, Reggae mit japanischer Enka-Musik zu kombinieren. Er hatte einen Artikel über Hibari Misora geschrieben, eine japanische Enka-Diva, und wie eins ihrer
Lieder, »Ringo Oiwake«, aufgegriffen und zu einem Ska-Song gemacht wurde. kreuzer: Und dann sind Sie zusammen mit ihm hierher gezogen? Hitomi: Auf der Party beschlossen wir, zusammen ein Album zu produzieren. Er kam mir vor wie ein großartiger Produzent, der japanische Kultur versteht und ähnliche Interessen hat wie ich. In den folgenden Monaten haben wir uns Demos und Dateien für das Album hin- und hergeschickt. 2013 habe ich ihn dann in Leipzig besucht, um die Sachen auszuarbeiten. Statt eines Albums haben wir dann aber ein Baby gemacht.

kreuzer: Sie haben also beschlossen, Ihre Familie in Leipzig zu gründen? Hitomi: Ich hatte eigentlich schon eine Wohnung in Berlin und war dort gemeldet. Dann habe ich angefangen zu kotzen und dachte: »Ach du Scheiße«. Er meinte: »Ok, wir ziehen das durch, entweder in Leipzig oder in Berlin.« Er hatte ein tolles Umfeld hier, sein Label und sein Labelpartner waren hier. Außerdem dachte ich, dass er Schwierigkeiten haben würde, in einer anderen Stadt zu wohnen. Wissen Sie, ich habe 20 Jahre London überlebt, ich könnte überall leben – denn dort war es zeitweise wirklich schwierig. Als es um die Frage ging, ob ich mir vorstellen könnte, nach Leipzig zu ziehen, war das für mich überhaupt kein Problem.

kreuzer: Sie haben von der Vermischung von Reggae und Enka gesprochen. Wie kann man sich das vorstellen? Hitomi: Enka war in Japan populär in den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern und besteht aus Moll-Akkorden und sehr emotionalem Gesang, ein sehr balladenlastiges Genre. Das passt zu Reggae und Bassmusik, weil im Reggae und im Enka ähnlich gesungen wird, mit ungefähr so einem Vibrato (singt ein reggaetypisches Vibrato). Ich fand, das passt zusammen. Dann hat Damian Jr. Gong Marley diesen einen Song »There For You« gehabt. Darauf hat er nicht Enka-mäßig gesungen, aber das Intro und das Outro klangen sehr danach, mit Streichern und Orchester. Ich dachte: »Scheiße, Damian hat diesen großartigen Tune gemacht, so was muss ich auch machen.«

kreuzer: Was waren Ihre frühen musikalischen Einflüsse? Hitomi: Ich bin Jahrgang 1972 und habe in den Achtzigern zusammen mit meiner Großmutter viele blutrünstige Samurai-Dramen im Fernsehen gesehen, die mochte sie sehr gerne. In denen gibt es am Ende immer eine Enka-Ballade. In Animes waren damals Antihelden sehr beliebt, da kamen dann auch oft Balladen in Moll vor, meistens düster und emotional, manchmal auch ein bisschen jazzig. Das waren meine ersten musikalischen Erfahrungen.

kreuzer: Haben Sie schon damals angefangen, Musik zu machen? Hitomi: Nein, damals habe ich noch keine Musik gemacht, nur gehört. In den Neunzigern habe ich zunächst Grafikdesign in London studiert und dann ein Skateboard-Unternehmen mit meinem Exmann geführt. Ich war damals in keiner Band, das höchste der Gefühle war Karaoke. Erst mit Mitte 30 habe ich angefangen, Musik zu machen. Da hatte ich mit dem Skateboard-Geschäft abgeschlossen und wollte ein neues Kapitel in meinem Leben 
aufschlagen. Ich wusste, dass es leichter sein würde, wenn meine Neuronen mit etwas beschäftigt sind, das sie neu lernen müssen, dass ich etwas anderes brauchte, um mir nach meiner Scheidung ein neues Leben aufzubauen. Deswegen sagte ich mir: »Ich werde Musik machen, ich bin eine Sängerin.« Als ich um 2005 herum einen neuen Mitbewohner suchte, habe ich diesen japanischen Typen kennengelernt, etwa zehn Jahre jünger als ich, der hat mir Breakcore und Dubstep gezeigt, und ich dachte: »Was zur Hölle …?« Wir haben uns dann getroffen, um zusammen Musik zu machen. Er hat mir The Bug gezeigt, das war ein Wow-Moment. Durch ihn habe ich die englische Musik der Zeit kennengelernt, als Dubstep gerade aus Croydon rüberkam.

kreuzer: Haben Sie sich Singen und Produzieren selbst beigebracht? Hitomi: Ich habe einfach angefangen, Demos mit Garage Band (Musikproduktionssoftware, Anm. d. Red.) zu machen, das war supereinfach zu bedienen. Keyboard konnte ich, weil ich zwischendurch ein bisschen Klavier gelernt hatte. Ich machte diese Demotapes und erzählte jedem, dass ich eine Musikerin bin. Wenn du nicht schwimmen kannst, spring ins Wasser. Als ich mit meiner Solomusik angefangen habe, war in Europa das Verständnis für japanischen Gesang kombiniert mit Reggae nicht gerade ausgeprägt. Aber es war das, was ich wirklich tun wollte. Bei King Midas Sound war ich gesangstechnisch eingeschränkt, The Bug mochte nur meine ätherische Flüsterstimme und hatte seine eigene Vision, worum es bei der Band ging. Dort konnte ich meine von der J-Pop-Kultur beeinflusste Seite nicht ausleben und auch keine emotionalen Balladen singen.

kreuzer: Apropos Dubstep: Gibts das noch? In Deutschland war das vor etwa zehn Jahren kurz überall und ein Jahr später komplett weg. Hitomi: Als Skrillex und diese ganzen Leute nach Amerika gegangen sind, um da zu produzieren, ist Dubstep zu einem Schema F geworden. Die Hochzeiten von Dubstep in Großbritannien waren schon so ungefähr von 2005 bis 2007. Aber vielleicht kommt es zurück. Ich glaube, dass sich alle 20, 30 Jahre der Kreis schließt, was das angeht.

kreuzer: Bevor Sie Musikerin wurden, haben Sie Grafikdesign studiert. Spielt das noch eine Rolle in Ihrem Leben? Hitomi: Definitiv. Ich hab immer eine Vision für das Cover, aber auch für Kostüme und die visuelle Präsentation auf der Bühne. Das ist ein Gesamtkonzept. Design ist noch immer ein wichtiges Werkzeug für mich. Als Kind habe ich ständig Mangas gelesen. Das ästhetische Verständnis habe ich von damals. Vorstellungskraft ist ein Teil meiner Arbeit.

kreuzer: Wie fühlt sich das Leben in Leipzig an im Vergleich zu Japan, London oder Berlin? Hitomi: Es ist ein bisschen, als wäre ich wieder in meine Heimatstadt im Speckgürtel von Osaka gezogen. Von da, wo ich wohnte, brauchte ich nur zehn Minuten bis zu einem Bambuswald oder zu einem Wasserfall mit wild lebenden Affen. Auch in Leipzig gibt es ziemlich viel Grün, und man hat es nicht weit, wenn man mal kurz rauswill, um die Natur zu berühren. So ist es ideal für mich. Wenn ich wirklich auf dem Land bin, bekomme ich immer so eine Art Fieber, weil ich die Stadt vermisse. Aber als ich hier hergezogen bin, war ich schon über 40 und hatte meine wilde Jugend gehabt. Ich brauchte ein entspannteres Leben, um beständig weiter Musik machen und währenddessen eine Familie gründen zu können.

kreuzer: Als Sie hergezogen sind, behaupteten viele, Leipzig sei das neue Berlin. Wie unterscheiden sich die
beiden Städte und ihre Musikszenen? Hitomi: Ich denke, die Beziehung ähnelt der von London und Brighton in Großbritannien. Mein Duopartner DJ Scotch Egg, mit dem ich unter dem Namen WaqWaq Kingdom produziere, lebte in Brighton, bevor er nach Berlin kam. Leipzig ist genauso: Es gibt eine eigene Musikszene, aber auch einen gesunden Einfluss aus Berlin. Für sieben Euro kann man sich in den Flixbus setzen und ist in zwei Stunden dort. Auch Freunde aus Berlin besuchen mich regelmäßig hier, gehen mit mir an den See, raus in die Natur und auf Partys. Die Clubkultur ist toll, mit Orten wie dem IfZ, Conne Island, UT Connewitz. Es ist perfekt, hier zu leben. Als ich 2012 nach drei Wochen in Berlin zurück nach London kam, konnte ich in East London nicht auf dem Gehweg laufen, weil dort irgendein Club in einem Vice-Artikel erwähnt wurde. Es war verrückt. Die Mieten in East London stiegen immer weiter, einer meiner Freunde musste bald das Doppelte zahlen. Es gibt dort kaum Gesetze wie den Mietendeckel. In Berlin steigen die Preise auch, aber die Mentalität ist eine andere. Auch in Leipzig gehören zu viele Wohnungen zu wenigen Einzelnen. Aber die Menschen hier halten stärker zusammen. Hier fühle ich mich sicher. Ich will nicht, dass Leipzig wie East London wird.

kreuzer: Meinen Sie damit, dass die Leute hier politischer sind? Hitomi: Junge Leute in Leipzig sind definitiv politisch interessierter. Es ist hart, unter dem Druck dieses Systems aufzuwachsen und zu leben. Aber durch das Internet ist es heute einfacher, sich zu vernetzen und anzusprechen, wo die Probleme liegen. Ich habe das Gefühl, die Menschen hier stehen enger zusammen. Ich liebe Großbritannien trotzdem und ein Teil von mir würde dort auch noch gerne leben. Ich hoffe einfach, dass es in Zukunft mehr Solidarität gibt. Es verändert sich viel, in den USA zum Beispiel durch Black Lives Matter. Japan dreht in der Zwischenzeit durch. Es gibt extreme soziale Ungerechtigkeit. Clubs in Osaka müssen um 24 Uhr schließen, für die Subkultur ist es sehr schwierig. Dabei denke ich, dass Musik die Menschen zusammenbringen kann. Man kann die Musik nicht vom Politischen trennen. Auch Reggae ist sehr politisch.

kreuzer: Zuletzt waren Sie Teil von »Two Play To Play«, einem Format, bei dem regelmäßig Musiker des
Gewandhauses mit Künstlern der Freien Szene zusammenarbeiten. Hitomi: Björk und viele andere Musikerinnen haben schon mit Orchestern und den Einflüssen klassischer Musik gearbeitet. Es ist extrem teuer, professionelle Spieler zu engagieren. Björk kann das machen, ich aber nicht. Deshalb war es toll, dass das Gewandhaus mich für ein Livestream-Konzert eingeladen hat. Das war im April 2020. Volker Hemken, ein Bassklarinettist (des Gewandhausorchesters, Anm. d. Red.), hat dort meinen Soundcheck gesehen und mich danach gefragt, ob wir für dieses Projekt zusammenarbeiten wollen. Ich dachte mir: »Warum nicht?« Ich kann die Produktion aber nicht allein durchziehen. DJ Scotch Egg hätte das machen können, durch Corona war es aber schwierig zu reisen. Deswegen machte es Disrupt. Ich fragte: »Kann er mitmachen? Ansonsten muss ich Nein sagen!« Eigentlich wollte ich nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten, nachdem wir 2016 mein erstes Soloalbum produziert haben. Mit WaqWaq Kingdom haben wir dann noch mal auf seinem Label veröffentlicht. Als Corona kam, dachten wir, es wäre gut, mit Volker zusammenzuarbeiten.

kreuzer: Und wie war es? Hitomi: Wir haben uns fast scheiden lassen. (lacht) Es war eine schwierige Situation. Unsere Tochter konnte nicht in den Kindergarten, ich konnte keinen Abstand gewinnen und meine Freunde in Berlin besuchen. Gleichzeitig standen wir unter enorm viel Druck, gute Arbeit für das Gewandhaus zu leisten. Das ist ja ein ganz anderes Publikum. Volker hat uns dabei wirklich geholfen. Er war wie ein Mentor.

kreuzer: Gab es viele Vorgaben vonseiten des Gewandhauses? Hitomi: Die Leute dort waren sehr entspannt und haben nichts von uns erwartet. Sie wollten einfach eine einstündige
Performance, die wir am Ende einem Publikum präsentieren – wozu es ja durch Corona leider nicht kam. Aber es gab keine Einschränkungen. Wir haben viel von Volker gelernt. Er hört ähnliche Musik wie wir und ist sehr aufgeschlossen. Es war großartig, mit ihm zusammenzuarbeiten.

kreuzer: Sollten Freie Szene und Hochkultur generell mehr zusammenarbeiten oder ist das nur ein einmaliges Experiment? Hitomi: Ich wünschte, es gäbe nicht diese scharfe Trennung, sondern mehr Interaktion. In Berlin passiert das bereits. Die Regierung dort fördert elektronische Musik und Clubkultur stärker. Da passiert jetzt viel. Junge Künstler lassen sich
von der Hochkultur inspirieren und kaufen Klassik-Samples. In Japan graben DJs in alten Stücken aus der Kaiserzeit und nutzen Elemente daraus.

kreuzer: Wie sind Sie im letzten Jahr damit umgegangen, nicht live auftreten zu können? Hitomi: Mit WaqWaq Kingdom war ich 2018 und 2019 viel auf Tour in Europa und Asien. Auch solo. Anfang 2020, kurz vor Corona, war ich ziemlich angeschlagen. Ich hatte einfach einen ungesunden Lebensstil. Ständig zum Flughafen, Shows, davor Soundcheck, zwischendrin warten. Selbst ein einziger Auftritt bedeutete, dass ich vier Nächte wenig Schlaf bekomme. Das waren meine Wochenenden. Ich hab zehn Jahre lang einfach zu viel gemacht. Im Januar 2020 kamen wir grade aus Shanghai zurück. Ehrlich gesagt war ich froh, dass wir gezwungen waren zu pausieren. Natürlich vermisse ich es, vor einem Publikum zu singen. Aber ich hab immer noch Albträume, dass mein Zug zu spät kommt oder mein Flug gecancelt wird. Es war gut, in diesem Jahr zu reflektieren: Warum mache ich das alles? Was will ich ausdrücken? Was machen wir mit der Erde? Wir verbrauchen so viele Ressourcen, konsumieren wie verrückt. Ich bin ständig geflogen.

kreuzer: Sie sagten mal, dass Sie früher vor Auftritten getrunken haben, um mit dem Lampenfieber klarzukommen. Wie ist das heute? Hitomi: Das mache ich nicht mehr. Inzwischen bin ich bei Auftritten absolut nüchtern. Aber ich bin immer noch aufgeregt. Bei den ersten drei Songs des Gewandhaus-Auftritts habe ich gezittert. Die Nervosität wird nie weggehen.
Die Antwort ist Übung. Ich bereite mich intensiv vor. Jungen Künstlern und mir selbst sage ich: Nicht zu viel nachdenken, sondern immer weiter produzieren.

kreuzer: Gestern kamen Sie aus Berlin zurück. Woran arbeiten Sie momentan? Hitomi: In Berlin hab ich mit DJ Scotch Egg an der neuen EP mit WaqWaq Kingdom gearbeitet. Die Arbeit mit dem Gewandhaus ist vorbei. Nachdem die Uraufführung im Conne Island in einem Livestream stattfand, haben wir jetzt
die Möglichkeit, im Juli doch noch im Gewandhaus aufzutreten. Das freut mich, ich habe Connewitz nämlich seit Ewigkeiten nicht mehr verlassen. Die Stücke, die wir mit Volker aufgenommen haben, werden wir bei Jahtari, Disrupts Label, veröffentlichen. Daran arbeiten wir aktuell noch und überlegen uns, wie wir das Cover gestalten. Die Vinyl erscheint dann im Herbst oder Winter.


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