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Über den Tellerrand

  Über den Tellerrand |
»Homedrinking is killing Gastwirt«. Der bekannte Slogan der Vodkaria in der Gottschedstraße schaffte es zwischenzeitlich auf T-Shirts. Nun gab es seit März 2020 mehrere Zeiträume, in denen Homedrinking ohne Alternative war. Teilweise waren nicht einmal das Corner-Bier oder die Flasche Wein bei Freunden in der Küche erlaubt. Nach zwei Lockdowns, zwei Sommern und ungefähr dreieinhalb Wellen sind Leipzigs Gastwirte keineswegs gekillt. Aber ihre Lage ist definitiv anders als vor der Pandemie. Die Titelgeschichte aus der September-Ausgabe des kreuzer 09/21.
Als im März 2020 der erste Lockdown begann, bedeutete dies für einige Bereiche des Lebens den plötzlichen Stillstand. Auch Restaurants und Cafés, Imbisse und Bars mussten schließen, um die erste Welle abzubremsen. Bund, Länder und Kommunen legten Unterstützungen auf. Soforthilfen und Kredite sollten helfen, die Liquidität zu erhalten, die Insolvenz-Anzeigepflicht wurde ausgesetzt, Kurzarbeit sollte Arbeitslosigkeit verhindern. In Crowdfunding-Kampagnen spendeten die Leute für Veranstaltungshäuser, Künstlerinnen und ihre Lieblingsrestaurants. Das Dr. Hops führte die Sache mit der Liquidität auf eine konzeptionell andere Ebene. Die Craftbeer-Bar in Connewitz hat ihre Nische bei Bierspezialitäten gefunden. Im ersten Lockdown wurde sie zum gut frequentierten Getränkehandel: »Es war spürbar, dass die Leute zu Hause etwas Besonderes trinken und außerdem die Bar unterstützen wollten«, sagt Franz Uhlig, der das Dr. Hops zusammen mit Stine Täubert seit knapp fünf Jahren betreibt. Ebenfalls spürbar: Die Kundschaft kaufte nicht einfach nur Bier, sondern kam auch wegen des Austauschs. Jeder Einkauf verband sich mit einem langen Gespräch. »Homedrinking« hält Gastwirt beschäftigt. Bald begannen die Online-Tastings: Dafür kauften sich Interessierte im Vorfeld sechs ausgewählte Biere im Dr. Hops. Mit diesen wohnten sie der Verkostung bei, die live aus der Bar an die Endgeräte gesendet wurde. Neue Konzepte, Take-away Im späten Frühjahr entspannten sich die Infektionszahlen, die Außengastronomie öffnete wieder. Für viele gastronomische Betriebe in Leipzig begann ein fetter Sommer, der eigentlich erst Anfang November endete. Da kam mit der zweiten Welle der Wellenbrecher-Lockdown, aus dem – jedenfalls für die Gastronomie – eine scheibchenweise verlängerte Schließung von mindestens sieben Monaten werden sollte. Take-away und Lieferdienste boomten: Nicht nur Spätis und Imbisse verkauften außer Haus. Das Fela in der Südvorstadt, der Waldfrieden in Connewitz oder das De la Noix – Restaurant im Germanus in Gohlis boten echte Gerichte oder Menüs zum Mitnehmen, das Renkli im Zentrum-Süd lieferte Pizza mit Weinbegleitung aus, das Imperii im Brühl füllte Cocktails in schicke Flaschen ab. Das Barcelona in der Gottschedstraße stellte sich eine Hütte in den Gastraum und verkaufte dort Getränke und was die Küche eingekocht hatte. Eingekochtes gab es auch in der Patisserie des Maître in der Südvorstadt, die Lehrlingsküche produzierte Rote-Beete-Suppe, Bœuf Bourguignon, Königsberger Klopse, Kichererbsencurry oder Wildschweinterrine. Im Dezember wurden vielerorts Gans und Ente und schließlich die Weihnachtsmenüs für die heimische Tafel zum Mitnehmen angeboten. Das Gohliser Restaurant Frieda bestückte für die Feiertage eine anspruchsvolle Kochbox mit vier Gängen, die zu Hause nach Anleitung noch mit dem letzten Schliff versehen werden mussten. Hilfen kamen schleppend, die Fixkosten liefen »Home eating« ist nicht die Lösung: Auch während der ersten langen Wochen im Jahr 2021 konnten die Konsumentinnen feststellen, dass sie sich an ihrer Tapete wie an ihrem Geschirr längst satt gesehen hatten. Die Müllberge wuchsen und einige Gastronominnen stellten das Außer-Haus-Geschäft wieder ein, weil es zwar für Kontakt mit den Gästen sorgte, aber in erster Linie Kosten verursachte. Die Fixkosten liefen während der Schließung für alle weiter, die Rücklagen schwanden, die Sorgen wuchsen. Es gründeten sich Stammtische, Facebook-Gruppen, Whats-App-Cliquen, leere Stühle auf dem Augustusplatz riefen nach Rettung der Branche. Diese kam u. a. in Form der November- und Dezemberhilfen (s. Kasten). Für die persönlichen Kosten gab es Grundsicherung, Rücklagen, Verwandte. Der Dehoga, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband, vertritt einen Teil der Leipziger Gastronomie. Stefan Niklarz ist dort für den Bereich Leipzig und Leipziger Land zuständig. Er beschreibt die November- und Dezemberhilfen als »gute Idee, gut gemeint und gut gedacht«, bezeichnet ihre Umsetzung dagegen als »Fiasko«, weil die Gastronomien bereits vier Monate in Vorkasse gewesen waren, als die Zahlungen eintrafen. Da sich diese Gelder zunächst an den Umsätzen im Vorjahr, also 2019, orientieren sollten, drohten außerdem die durchs Raster zu fallen, die erst 2020 eröffnet hatten. So hatte Meriyam Ahbel nach der Eröffnung ihres Restaurants Tumbler in Reudnitz einen starken Oktober 2020. Danach gab es keine Einnahmen mehr. Es folgten peinvolle Wochen, bis auch sie für ihr Unternehmen Hilfen beantragen konnte, und wiederum peinvolle Wochen, bis der erste Abschlag ankam. Bis Anfang April 2021 gehörte es zu Ahbels Alltag, viele Dinge zu regeln und Wege zu finden, wie sie sich regeln lassen. Das erforderte Recherche und viele Telefonate mit verschiedenen Stellen von Steuerberater über Krankenkasse, Finanzamt, IHK bis zu den Stadtwerken. »Zum Glück habe ich einen tollen Vermieter. Ich muss ja geschäftlich weitermachen.« Ihr Neustart im Frühjahr 2021 begann mit einem Schuldenberg in kleiner fünfstelliger Höhe, die privaten Ausgaben liefen ebenfalls weiter. Und nicht alles ließ sich schnell klären. Es war Mitte Mai in diesem Jahr, als nach fast sieben Monaten Schließung die Außengastronomie wieder öffnen durfte. Ahbel fragte bei der Stadt nach einer Genehmigung für zwei Tische vor ihrem Restaurant, auf einem kleinen Abschnitt zwischen Fußweg und Straße. Acht Wochen dauerte es, bis dieses Lebenszeichen ans Viertel erlaubt war und sie die beiden Tische rausstellen konnte. Und nach zwei Wochen wieder schließen Dass nicht sofort die Freisitze und Biergärten überquollen, lag nicht nur am nasskalten Wetter. Es gab Unsicherheiten, auch zu den Regeln zu Abständen sowie zu Haushalten und der Personenzahl pro Tisch. Für die Gastronomen war schwer einzuschätzen, worauf sie sich einzustellen haben – wie viele Gäste kommen, was und wie viel diese konsumieren, wie viel Personal sie benötigen und was passiert, wenn es einen Regenguss gibt, sie aber niemanden in die Innenräume bitten können. Außerdem war nicht abzusehen, wie sich die Inzidenzwerte entwickeln würden. Es ließ sich nicht ausschließen, dass man zwei Wochen nach der fröhlichen Wiedereröffnung abermals würde runterfahren müssen. Das bedeutet auch: Lebensmittel wegschmeißen, eine Liste mit Gläubigern anfertigen und dem Personal sagen, dass es nun erst einmal wieder zu Hause bleiben kann. Trotz insgesamt kulanterer Genehmigungen für die Außengastronomie seitens der Stadt lohnt sich ein Freisitz nicht für jedes Konzept und in jeder Lage. Vor die Rorschach-Bar in der Südvorstadt könnten etwa drei kleine Tische passen. Betreiber Maurice Le Petit sagt: »Das hieße, für sechs Personen alles hochzufahren. Und es entsteht keine richtige Atmosphäre.« Auch die Nepomuk-Bar in Plagwitz kann auf dem Fußweg nur wenige Plätze anbieten. Betreiber Lukas Adolphi fährt nun zweigleisig: Zum Barbetrieb kam die Nicediele hinzu, hier verkauft er Plagwitzer Manusso-Eis. Spirituosen sind haltbar Das Barkonzept hat nicht nur Nachteile. So musste Maurice Le Petit nach der Schließung zwar Bier entsorgen. Er kann sich aber freuen, dass sein Lagerbestand überwiegend aus haltbaren Spirituosen besteht. Mit der Wiedereröffnung im Juli startete er wirtschaftlich bei Null. Sein Betrieb bekam sämtliche Hilfen, auch wenn er lange auf die November- und Dezemberhilfen warten und viel rumtelefonieren musste: »Auf den letzten Drücker hat aber doch alles funktioniert.« Zur Maskenpflicht in Innenräumen kommt die Abstandspflicht hinzu. Das bedeutet weniger Plätze und kein gemütliches Abhängen am Tresen. »Ich versuche jetzt, die Situation zu genießen und mir keine Angst zu machen.« Wenn sich nur Geimpfte, Getestete und Genesene in einem Raum aufhalten, steht einem weitgehend normalen Barbetrieb, auch auf engem Raum, eigentlich nichts im Weg. In der Vergebung in Connewitz gab es auch vor der Pandemie keinen normalen Barbetrieb im herkömmlichen Sinne. Die Kneipe im Herzen von Connewitz kann sich auf eine Stammkundschaft verlassen, die gerade ihre Wunderlichkeit zu schätzen weiß. Betreiber Andreas Strobel plakatierte während des langen zweiten Lockdowns fleißig mit der Bitte um Unterstützung. Die Idee sei von seiner Kundschaft selbst gekommen. Die Unterstützung hat und hatte die Form von sogenannten Bieranleihen. Das Geld aus den Bieranleihen half erst einmal durch den Dezember, die staatlichen Hilfen kamen auch hier recht spät an. Viele derer, die nun im Besitz solcher Bieranleihen sind, planen nicht, sie einzulösen, denn die Vergebung soll es noch eine Weile geben. Zurück zur Normalität ist für ihn keine Alternative. Denn: »Was ist schon normal?« Auf einer Leinwand hinter dem Schaufenster läuft abends »Jenseits von Afrika«. Es erscheint, neben den kleinen Brunnen und Kunstwerken, wie die natürlichste Beilage zum Bier. Für den Winter plant Strobel, es noch einmal mit den Bieranleihen auszuprobieren und fleißig Glühwein auszuschenken. Er spricht von »Kopfkino«, wenn es um die Zukunft geht. Niemand weiß, wie sich die Lage entwickelt und wie die Politik reagiert. Aber: Das Publikum weiß jetzt, was es für die Vergebung tun kann. Strobel zitiert den österreichischen Dramatiker Werner Schwab, ganz in seiner Art: »Wer sich für das, was er gerne haben möchte, nicht anzünden kann wie einen Heustadel, der hat nichts Besseres verdient als den bösen Himmel.« Spätis: »Soziale Befriedung« Auch ein Spätverkauf kann leidenschaftlich betrieben werden. In der Pandemie kämpfen sie für ihre Angestellten und den nachbarlichen Frieden – immer auf dem schmalen Grat zwischen Gastro und Einzelhandel. Als letzte Bastion des Feierabendbierchens scheinen sie beinahe krisensicher. Sie sind intimere Orte, die Stammkundschaft kennt sich. In Spätis ist es weniger stressig als in der Kaufhalle, und wenn es möglich ist, davor noch einen zu trinken, bilden sie den perfekten Treffpunkt während einer globalen Pandemie – wenn nicht gerade Ausgangssperre herrscht. Die Connserve im südlichen Connewitz ist einer dieser kleinen Läden. Für die Nachbarschaft ist sie – ebenso wie Onkel Toms Hütte in der Südvorstadt – ein Allzweckladen, der Montag bis Sonntag alles für den täglichen Bedarf und einen Imbiss bereithält. Durch ihren Status haben Spätis während des »ersten Pandemiewinters«, wie Tom Rieger es formuliert, durchaus zur »sozialen Befriedung« beigetragen. Der Betreiber von Connserve und Onkel Toms Hütte ist sich sicher, dass die Spätikultur einige Einschränkungen der Corona-Maßnahmen abfedern konnte. Neben der Connserve stehen ein paar Bänke, an denen sich die Stammkundschaft nach Feierabend auf ein paar Bier oder Radler trifft. Im letzten Winter blieben diese Bänke meist leer. Der Verzehr von Getränken war nicht erlaubt, auch wenn das manche nicht abhalten konnte, auf dem Weg nach Hause eine Kippe mit Bier zu genießen. In der Winterzeit musste Riegers Köchin in Kurzarbeit gehen und er musste die Kundschaft vorsichtig auffordern, nicht direkt vorm Laden zu trinken. Für seine Geschäfte brauchte er bisher keine staatlichen Hilfen, die verordnete Verkürzung der Öffnungszeiten macht sich aber langsam bemerkbar. Immerhin brauchte er sonst keine Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. Selbst die schwelende Diskussion über den Status von Spätis, mit der er und andere Späti-Betreiber sonst konfrontiert sind, scheint gerade nicht auf der politischen Tagesordnung zu stehen. Das Dr. Hops wird in diesem Herbst und Winter nicht das übliche Konzept fahren können, denn ausgelassene Kneipenabende mit Jazz sind mit Maske und Abstandsregeln schwer vereinbar, das Geschäft und der Spaß daran werden in der kalten Jahreszeit wohl noch mit angezogener Handbremse laufen. Dennoch ist Franz Uhlig derzeit einigermaßen entspannt: »Die Firma war nie in akuter Gefahr, aber der Moment, dass wir gut davon leben können, ist nun wieder um ein, zwei Jahre nach hinten verschoben«. Die November- und Dezemberhilfen kamen bei ihnen sehr schnell an, davon konnten sie Rechnungen und Personal bezahlen. »Das war eine sehr faire Sache.« Ende 2020 bemerkten sie die veränderte Stimmung, im zweiten Lockdown kam niemand mehr zum Bierkaufen. Dafür gingen die Pakete für die Online-Tastings sogar republikweit in die Post. »Da hatten wir zwar keine schwarzen Zahlen. Die Umsätze haben aber dabei geholfen, dass wir unsere Rücklagen nicht so schnell abschmelzen mussten.« Torsten Junghans, Betreiber der Vodkaria in der Gottschedstraße, fand die November- und Dezemberhilfen ebenfalls im Grundsatz eine faire Idee, so konnte er seine Partner und sein Personal zu hundert Prozent bezahlen. Während er auf die Novemberhilfe wartete – der erste Abschlag von 10.000 Euro kam innerhalb einer Woche, der Rest Ende Februar – konnte er sich mit einem Kredit über Wasser halten, die Dezemberhilfe kam dagegen schnell bei ihm an. »Was ich an Betriebsvermögen hatte, ist mehr oder weniger weg. Und privat habe ich ja auch Ausgaben, die sind logischerweise in der Überbrückungshilfe nicht mit drin«, sagt Junghans. »Wie genau das ausgehen wird, wird sich zeigen, es ist sicher sehr viel weniger, als wir ohne Pandemie gehabt hätten. Im schlimmsten Fall habe ich nichts mehr.« Lächelnd wendet er sofort ein: »Das lässt sich aber eigentlich so auch nicht sagen, denn ich habe noch den Laden, ein geiles Publikum und einen guten Ruf. Wir fangen also nicht bei Null an, nur weil wir nichts mehr haben.« »Überschrift ist: alles Scheiße« Das Black Label in Connewitz hätte auch ohne Pandemie Sorgen genug. Seit Jahren Anlaufstelle für Fans von kuscheligen Hardcore-Konzerten und langen Feierabenden steht auf dem Gelände des einstigen Biergartens neben der Kneipe nun ein Investorenbauprojekt für teure Eigentumswohnungen. Mitbetreiberin Anne Rehberg erzählt davon, dass durch die angrenzenden Bauarbeiten sogar die Fassade eingerissen sei. Bis Redaktionsschluss hat sie von den Eigentümern des Immobilienprojekts dazu – und eventuelle Reparationen – noch nichts gehört. Während des Winters wussten die Betreiber des Black Labels manchmal nicht, was sie tun sollen. Als die Ersparnisse dafür herhalten mussten, die Zeit bis zum Eingang der staatlichen Hilfen zu überbrücken, hatte das Team die Idee, den Laden mithilfe von Crowdfunding zu erhalten. Anne Rehberg war der Gedanke, ihre Gäste um Unterstützung zu fragen, erst unangenehm – auch weil sie sah, dass viele Menschen finanziell unter der Pandemie litten. Doch der Erfolg spricht für sich: Fast 17.000 Euro konnte das Black Label durch die Hilfe der Stammgäste und darüber hinaus einnehmen. Für Rehberg und das Team brachte dieser Support erst einmal Entlastung mit sich und einen Puffer für den nächsten Winter. Die staatlichen Hilfen konnten ihnen, wie sie sagt, ebenfalls fürs Erste den »Arsch retten«. Doch sie blickt skeptisch in den kommenden Winter: »Überschrift ist: alles Scheiße.« Zwar wurde die Unterstützung der Branche bis zum Jahresende verlängert. Der Winter geht jedoch im neuen Jahr weiter. Die Konzerte bleiben vorerst aus. Der Laden ist zu klein und ohne Biergarten verlagert sich das Geschehen auf die Wolfgang-Heinze-Straße. Das ist keine praktische Alternative für Herbst und Winter, auch mit Decken und warmen Getränke lassen sich die Fixkosten nicht tragen. Das Personal wandert ab Anpassungen anderer Natur gab es im Stoned in der Kolonnadenstraße. Betreiber Derek Hedges hatte über die letzten Sommer eigentlich immer zwei Monate geschlossen: »Eine dunkle Kneipe ist im Hochsommer nicht das Verlockendste.« Nun hatte er im Sommer bereits am Nachmittag geöffnet und versucht, »das Publikum auf drei Tage in der Woche zu ballen«. Ein Freisitz lohnt sich für das Stoned ebenfalls nicht, die Einhaltung der Abstände über reduzierte Plätze ist bei Räumlichkeiten von 45 Quadratmetern eine hohe Kunst. Hedges berichtet wie viele andere von Personalabwanderung in andere Branchen: »Ich kann den Leuten keine Garantie geben, ob und wann es weitergeht.« Die Abwanderung betrifft viele Betriebe, manche müssen wegen des Personalmangels ihr Geschäft einschränken. Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) spricht davon, dass im letzten Jahr in Leipzig 2.100 Köche, Servicekräfte und Hotelangestellte anderswo eine Anstellung fanden, das entspricht 15 Prozent der Beschäftigten. NGG-Geschäftsführer Jörg Most macht dafür einerseits die lange Zeit der Untätigkeit mit Kurzarbeitergeld verantwortlich, in dessen Berechnung das Trinkgeld nicht einfließt und das an die Höhe des Gehalts gekoppelt ist: »Einige hatten nur 700 oder 800 Euro im Monat.« Andererseits sieht er auch die Arbeitsbedingungen: »Niedrige Löhne, lange Schichten, arbeiten, wenn andere feiern. Dafür muss man schon geboren sein.« Stefan Niklarz vom Dehoga sagt: »Die überwiegende Mehrheit der Gastrobetriebe in der Stadt Leipzig kann momentan ihr Geschäft nur schwer abbilden: Die Restaurants sind überfüllt, die Gäste sind nicht mehr so verständnisvoll wie noch Mitte Mai, sondern zunehmend genervt.« Immerhin: »Für einige sind sogar die Personalkosten gesunken, weil das Fachpersonal fehlt.« Von genervten Gästen kann Jenny Tandogan nicht berichten. Die Betriebsleiterin des Letterman in der Gottschedstraße erzählt vom Verständnis dafür, dass drinnen nicht alle Tische besetzt sein können und Reservierungen nötig sind. Obwohl das Letterman kein Personal verloren hat, sagt sie: »Ohne den Personalmangel hätten wir weniger Sorgen. Wir können dem Andrang der Gäste derzeit kaum gerecht werden.« Barkeeper Kristian Gehrke-Osterland ergänzt: »Um den Laden am Leben zu halten, fahren wir längere und mehr Schichten. Noch haben alle gute Laune – viele hatten sieben Monate frei und nur Kurzarbeitergeld, da ist die Motivation natürlich hoch.« Stefan Niklarz vom Dehoga spricht sogar von 30 Prozent Abwanderung. In der Vodkaria war dieser Anteil noch höher, allerdings hing bei Weitem nicht jeder Fall mit der Pandemie zusammen. »Die Pauschalkräfte sind in voller Stärke wieder besetzt«, sagt Torsten Junghans. »Von den Festangestellten sind nur 40 Prozent wieder da. Da fehlen also auch Leute, die die Pauschalkräfte anleiten und dem Laden ein Gesicht geben.« Ein sympathisches Video, mit dem er um Leute warb, brachte ihm gerade eine Pauschalkraft ein. Aus Personalmangel ist ein Teil der Vodkaria unter der Woche geschlossen, im Juli blieben deshalb die Sonntage zu. Die Mitgliedschaft im Dehoga unterliegt nicht den Tarifverträgen, die die Gewerkschaft NGG mit dem Dehoga aushandelt. Jörg Most von der Gewerkschaft zufolge könnten flächendeckende Tarifverträge aber ein entscheidender Teil der Lösung sein: »Das wäre ein Signal von Verbandsseite, dass die Probleme erkannt wurden.« Ein Tarifvertrag habe eine Ordnungsfunktion, mit ihm schwächt sich die Konkurrenz untereinander in punkto Personalkosten ab. Solange nur einzelne Arbeitgeber höhere Löhne zahlen oder über Freizeit und Schichten nachdenken, ändert sich insgesamt nicht viel. Most zufolge ließe sich damit sogar das Image der Branche verbessern: »Ein Tarifvertrag ist doch ein Aushängeschild.« Drohende Insolvenzwelle Eine Konsequenz des Personalmangels sind verengte Öffnungszeiten, ausgeweitete Schließtage und ein verändertes, häufig verkleinertes Konzept, eine schmalere Karte zum Beispiel. Zusammen mit der ohnehin oft reduzierten Anzahl an Plätzen bedeutet dies natürlich, dass Umsätze flöten gehen. Nicht nur deshalb ist das letzte Wort zur wirtschaftlichen Situation der Leipziger Gastronomie-Szene längst nicht gesprochen. Aktuell gibt es noch einige Zuschüsse, nach wie vor wird Kurzarbeitergeld gezahlt. Die Hilfen aus dem Jahr 2020 und aus diesem Jahr sind allerdings unter Vorbehalt geflossen, die Tiefenprüfungen durch die auszahlenden Banken fanden noch nicht statt. Stefan Niklarz vom Dehoga befürchtet, dass es deshalb doch noch zu einigen Insolvenzen kommt, »weniger in der Hotellerie, aber in der Gastronomie«. Herbst und Winter sind zudem die Jahreszeiten, in denen es – je nach Entwicklung der Pandemie und je nach gastronomischem Konzept – schwieriger werden könnte, gute Umsätze einzufahren als im Sommer. Dann wird sich außerdem zeigen, dass drei Sommermonate auch beim Personal die Defizite der sieben Schließungsmonate kaum ausgleichen können. Und dies könnte, so befürchtet Niklarz, abermals zur Abwanderung von Personal führen. Es ist sicher nicht damit zu rechnen, dass die Fachkräfte, die jetzt in Handel, Logistik oder anderswo untergekommen sind, mehrheitlich zurückkehren. Die Gastronomie gilt nicht mehr als sichere Branche. »Getrunken und gegessen wird immer« hat sich als eine Regel erwiesen, von der es Ausnahmen gibt. Tatsächlich war die Personalsituation bereits in den Jahren vor 2020 alles andere als entspannt. »Jetzt ist die große Chance auf eine Neugestaltung der Betriebe«, sagt Stefan Niklarz vom Dehoga. Er betont, dass es da nicht unbedingt nur um mehr Geld geht, sondern um andere Arbeitszeiten, mehr Urlaub, Unterstützung beim Arbeitsweg. Stundenlöhne von 17 Euro müssten erst einmal erwirtschaftet werden: »Das müssen die Gäste zahlen.« Maskenpflicht und Corona-Leugner Die Durchsetzung der Hygienemaßnahmen kann mehr Aufwand bedeuten, der wiederum Personal bindet. Da gab es punktuell Schwierigkeiten. Tom Rieger erzählt, dass seine Mitarbeiter in Onkel Toms Hütte öfter Diskussionen über die Maskenpflicht ausgesetzt sind. Den Höhepunkt erreichte die aufgeheizte Stimmung, als sich nach einer längeren Pöbelei ein kleiner Mob von Corona-Leugnern vor dem Laden formierte und bereit war, den Späti zu stürmen. Zum Glück reagierte der Mitarbeiter rechtzeitig, schloss die Türen ab und konnte die Angreifer verjagen. Solche Situationen machen Rieger und seinen Mitarbeitern in der Pandemie am meisten zu schaffen. Die Einhaltung von Auflagen zu kontrollieren und die Gäste gegebenenfalls zu mahnen oder gar des Lokals zu verweisen, widerspricht eigentlich dem Bild des Gastgebers. Und es kann auch mit viel Verantwortung einhergehen: »Ich könnte einen gut gefakten Test nicht von einem echten unterscheiden. Und ich mache natürlich keine Kopien von den Unterlagen und vom Ausweis, auf die ich mich später berufen könnte«, fasst Meriyam Ahbel zusammen. Auch Maurice Le Petit möchte Gäste nicht ermahnen oder kontrollieren: »Es macht keine gute Stimmung. Das ist nicht meine Rolle, da habe ich keinen Bock zu.« Er hatte im Rorschach bislang so gut wie keine Vorfälle von Maßnahmenverweigerern. Im Black Label halten sich die Gäste ebenfalls an die Regeln, wie Anne Rehberg sagt. »Wir hatten bisher keine Diskussionen, was ich sehr gut finde.« Den Gästen gefällt es sogar, dass der Laden strikt auf die Umsetzung der Hygienevorschriften achtet. Die Maßnahmen gehen an die Nerven, wenn Debatten entstehen und mit ihnen bei allen Anwesenden schlechte Laune aufkommt. Sie sorgen für mehr Kosten, der Verbrauch an Reinigungs- und Desinfektionsmitteln in der Branche, die ohnehin strenge Hygienestandards hat, ist deutlich erhöht. Auch an anderen Ecken steigen die Kosten. Stefan Niklarz vom Dehoga zählt auf, dass es seit 2020 zwei Mindestlohnerhöhungen gab und Fleisch, Fisch sowie Energie teurer geworden sind. Ebenfalls angezogen haben die Bierpreise und Speditionen wie Lieferanten verlangen mehr. Trotz gestiegener Bierpreise hat die Vodkaria bislang die Preise nicht bewusst erhöht. Auch im Letterman schlagen sich die Preiserhöhungen noch nicht in der Karte nieder. »Dank der staatlichen Hilfen schlucken wir das und geben es nicht weiter. Wir sind froh, dass die Gäste kommen«, sagt Kristian Gehrke-Osterland vom Letterman. Derek Hedges vom Stoned hat zehn Jahre versucht, die Preise zu halten. Die Flasche Spirituosen wird jedoch fünf Euro teurer, er wird wohl im Herbst nachziehen müssen. »Ich versuche, das fair zu gestalten.« Auf Fairness achtet auch das Dr. Hops. Trotz wechselndem Sortiment mit Produkten, die nicht preiswert sind, haben sie immer ein Bier für unter vier Euro im Angebot. »Bei der Mischkalkulation sind wir cleverer geworden. Und auch bei den Kosten«, sagt Franz Uhlig. Deshalb sind die regelmäßigen kleinen Konzerte derzeit nicht drin: »Das leisten wir uns gerade nicht.« Auch beim Personal haben sie sich verschlankt, neben den beiden Betreibern gibt es lediglich einen Angestellten und eine Pauschalkraft. Mit gemischten Gefühlen in den Herbst »Das Preisniveau der letzten 30 Jahre war unter Marktwert«, sagt Niklarz vom Dehoga. Er kann sich für die Zukunft zwei Entwicklungen vorstellen, die gleichzeitig ablaufen: Einerseits könnte es dann Lokale geben, die das volle Servicepaket für einen recht hohen Preis anbieten, andererseits mehr Lokale mit Selbstbedienung. Zunehmend an Bedeutung gewinnen Wertschätzung und Respekt für die Arbeitsleistung innerhalb der gesamten Kette, von der Herstellung der Rohstoffe bis zum Teller, der an den Tisch gebracht wird. Die Wertschätzung muss dabei Maurice Le Petit zufolge gesamtgesellschaftlich auch den sozialen und kulturellen Räumen gelten, die Kneipen und Bars, Cafés und Restaurants bilden. Dort schauen die Leute erst einmal mit gemischten Gefühlen Richtung Herbst und Winter. Derek Hedges fasst zusammen: »Ich hoffe, dass die Lage stabil bleibt und wir weiter arbeiten können.« »Homedrinking is killing Gastwirt«: Es wird sich zeigen, was Herbst, Winter, die Abrechnung der Hilfszahlungen und der nochmalige Blick in die Bücher erbringen. Eine Wiederholung der letzten kälteren Jahreszeit ist nicht wahrscheinlich, weil die Gegebenheiten in diesem Jahr anders sind. Die Leipziger Gastronomie könnte eine kleine Insolvenzwelle erleben, die aber möglicherweise über die ganze Zeit ab 2020 gerechnet nicht höher ausfällt als in nicht-pandemischen Jahren. Immerhin könnte darin auch ein zynischer Lichtblick liegen: Eine verzögert einsetzende Kneipenpleitenwelle würde Personal freistellen.
Wer bekommt was? Ein grober Überblick über die Hilfen für Gastronomie und andere Branchen → Soforthilfe: Unternehmen mit bis zu fünf Angestellten konnten einmalig bis zu 9.000 Euro, Unternehmen mit bis zu zehn Angestellten einmalig bis zu 15.000 Euro für die Betriebskosten von drei Monaten erhalten. → Insolvenzantragspflicht: Die Verpflichtung war bis zum 30. April 2021 bei coronabedingter Überschuldung sowie zeitweise bei Zahlungsunfähigkeit ausgesetzt und teilweise an den Anspruch auf Hilfen geknüpft. → Kredite und Bürgschaften: Bund und Länder setzten Kreditprogramme, Finanzierungshilfen und Bürgschaften auf. → Hartz IV: Der Zugang zur Grundsicherung ist vereinfacht. → Kurzarbeitergeld: Unter bestimmten Umständen erstattet die Bundesagentur für Arbeit teilweise das Entgelt von Angestellten mit pauschalierter Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge, abzüglich der Arbeitslosenversicherung zu 50 oder 100 Prozent. Das Unternehmen streckt die Zahlungen vor. → November- und Dezemberhilfen: Bei coronabedingter Schließung fließen bis zu 75 Prozent vom Umsatz des Vorjahres- oder – in bestimmten Fällen – eines anderen Vergleichsmonats. → Überbrückungshilfen I bis III Plus: Die Zuschüsse bei coronabedingten Umsatzrückgängen ab einer bestimmten Höhe basieren auf den Fixkosten des Betriebs sowie – unter bestimmten Bedingungen – auf anteiligen Personalkosten und berücksichtigen teilweise auch Ausgaben für Instandhaltung. In bestimmten Fällen ist eine Personalkostenhilfe möglich.

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