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»Man ist erst tot, wenn sich niemand mehr erinnert«


Ein echter Tatortreiniger: Thomas Kundt über Leben und Tod, seinen Beruf als Berufung, den Blick in fremde Wohnungen und sein neues Buch

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Ein echter Tatortreiniger: Thomas Kundt über Leben und Tod, seinen Beruf als Berufung, den Blick in fremde Wohnungen und sein neues Buch

Thomas Kundt besucht uns an einem warmen Augusttag in der kreuzer-Redaktion. Er trägt Arbeitskleidung: graue Arbeitshose, Turnschuhe, schwarzes T-Shirt mit »Tatortreiniger«-Aufdruck. »Hallo, ich bin Thomas. Ich bin geimpft, gechippt und entwurmt«, sagt er munter, wirkt entspannt und nahbar. Er setzt sich hin und erzählt von der Reise, die ihn zum Beruf der Tatortreinigung führte. Das Interview des Monats aus der September-Ausgabe des kreuzer 09/21.

kreuzer: Sie arbeiteten als Finanzberater und wurden dann zum Tatortreiniger. Wie kam es dazu? Thomas Kundt: In meinem vorigen Job hatte ich viele Kunden, die Polizisten waren, weil ich zum Teil auf Beamte spezialisiert war. Ich sammle zudem alles, was alt ist, Antiquitäten also. Ich habe mal mit einem Freund eine Wohnung geräumt, als Hobby. Irgendwann unterhielt ich mich mit einem Kripo-Beamten darüber auf einer privaten Grillparty, er sagte: »Mach doch Tatortreinigung, da kommst du an die richtig guten Wohnungen als Erster ran.« Ich recherchierte und fand heraus, dass es keine großen Ausbildungsvorgaben gibt. Ich gestaltete mir dann Visitenkarten, verteilte sie an die Polizisten und sagte: »Wenn mal was ist, kannst jederzeit anrufen.« Der Kripo-Beamte von der Party gab meine Nummer ebenso an seine Kollegen weiter.

kreuzer: Wie war Ihr erster Einsatz? Kundt: Ich war aufgeregt. Bei diesem Job treffen wir die Menschen in ihrem verwundbarsten Augenblick. Darauf ist man selber nicht vorbereitet. Ich hatte früher mit Schlips und Kragen im Büro gesessen. Dann auf einmal Tatortreinigung. Was braucht man dafür, wo besorgt man das? Du fährst zu OBI. Du holst dir einen Maleranzug. So war das. Und dann saß ich im Auto und überlegte, was ich machen kann. Ich kam nicht weiter und rief meine Mutti an. Sie sagte: »Hol mich ab, ich komme mit.« Als wir bei dem Tatort ankamen, wusste ich nicht, was zu tun ist. Meine Mutter fing an, mir Anweisungen zu geben. Als wir dann fertig waren, dachte ich: »Das machst du nie wieder.« So wird man Tatortreiniger.

kreuzer: Sie schreiben in Ihrem Buch »Nach dem Tod komme ich«, das im September erscheint, dass Sie den Verstorbenen extrem nahekommen. Wie meinen Sie das? Kundt: Ich lerne Menschen von einer ganz besonderen Seite kennen, erfahre Sachen über sie, die ihre Familien nicht kennen. Das kann eine sexuelle Neigung sein, eine finanzielle Situation, Geheimnisse. Die behalte ich aber für mich. Einst fand ich bei einer Räumung eine Kiste mit Briefen. Der Verstorbene hatte einen Kurschatten, zu dem er sein ganzes Leben Kontakt hielt. Seine Frau wusste es nicht und vergötterte ihren Mann. Von mir hat sie es auch nicht erfahren, weil ich glaube, dass es nicht gut ist, das Bild eines Menschen zum Ende seines Lebens zu zerstören.

kreuzer: Sie schreiben über Wohnungen mit DDR-Charme oder bezeichnen Verstorbene auch mal als »Wendeverlierer«. Was erzählen die Wohnungen über die Geschichte der Stadt? Kundt: Mit »Wendeopfern« meine ich Menschen, die studiert hatten, die eine tolle Karriere vor sich hatten, oder in einem Betrieb mit mehreren tausend Mitarbeitern arbeiteten. Man sieht die Auszeichnungen an den Wänden, Fotos, auf denen sie Reden halten. Und dann kommt die Wende und sie fallen durch die Raster. Wenn auch in der Familie Probleme entstehen, lassen sie sich scheiden. Die Frau zieht in der Regel mit den Kindern weg, dann ist so ein Mann alleine in seiner schönen Wohnung in Grünau. Sie fangen an zu trinken und viel zu rauchen. Sie sterben einsam und niemand findet sie. Tage, Wochen, Monate. Bis zu einem Jahr. In einem Fall lag ein Mann wohl sieben Jahre lang tot in seiner Wohnung, das habe ich mal von einem Rechtsmediziner gehört. Sieben Jahre interessierte sich niemand für ihn. Ein Mensch ist erst dann tot, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert.

kreuzer: Wie gehen Sie mit der emotionalen Last Ihrer Arbeit um? Kundt: Mein Allheilmittel ist, dass ich mich von dem Tatort verabschiede. Also ich sage: Ich habe hier meine Aufgabe erledigt, ich verabschiede mich, ich wünsche Ihnen alles Gute, eine gute Reise. Dann ist es für mich auch abgeschlossen. Und ich versuche, mich zu erinnern, dass ich die Hinterbliebenen von einer extremen Last befreie. Sonst müssten sie es ja selber machen. Ich könnte die Wohnungen meiner Angehörigen nie selber räumen, zu viele Emotionen, zu viele Erinnerungen. Wenn ich die Wohnung eines mir fremden Menschen räume, sehe ich vielleicht zum Beispiel einen Plastik-Eifelturm. Der ist nix wert, den schmeiße ich weg. Für die Hinterbliebenen bedeutet das aber vielleicht eine Erinnerung oder hat einen riesengroßen Wert. Wir löschen mit einer Räumung auch ein gesamtes Leben dort aus, indem wir die Erinnerungen vernichten.

»Fremdscham ist angenehmer, als kritisch aufs Eigene zu schauen«

kreuzer: Über welche Eigenschaften müsste ein Tatortreiniger sonst verfügen? Kundt: Ich glaube, wenn jemand ein extremer Pessimist ist und alles negativ sieht, dann ist er nicht gut aufgehoben in dem Job. Er sollte einen solchen Job nicht machen, weil er alles auf sich laden würde. Ich bin ein positiver Mensch, der versucht, in jeder Situation etwas Positives zu finden. Ich lebe auch viel intensiver, seit ich so viel mit dem Tod zu tun habe.

 

kreuzer: Wie kamen Sie auf die Idee, über Ihren Beruf ein Buch zu schreiben? Kundt: Während der Arbeit laufe ich mit einem T-Shirt rum, auf dem »Tatortreiniger« steht. Wenn ich mal irgendwo ankomme, höre ich Menschen »Guck mal, ein Tatortreiniger« flüstern. Ich werde auch mal angesprochen. Wenn man sich beispielsweise auf einer Hochzeit mit einer Person unterhält und erzählt, in der Finanzdienstleistungsbranche tätig zu sein, da kriegen die Leute einen Schreck und laufen davon. Als Tatortreiniger aber bekommt man viel positive Aufmerksamkeit. Viele sagen, sie könnten es zwar nicht, aber die Schlüssellochperspektive mitnehmen und bisschen über den Beruf erfahren, wollen sie. Menschen schauen auch gerne Sendungen wie »Hartz und herzlich«, weil die Fremdscham angenehmer ist, als auf das eigene Leben kritisch zu schauen. Als ich ein paar Storys erzählt habe, habe ich gemerkt, dass die meisten Leute mehr hören wollten. Dann lernte ich eine Dame kennen, die bei der Leipziger Buchmesse arbeitet. Über sie kam die erste Veranstaltung zustande, die in einer kleineren Bühne geplant war. Dann wurden aber so viele Karten gekauft, dass es auf die größere Bühne verlegt werden musste. Da merkte ich, wie viele sich für das Thema interessierten. Dann sagte eine Agentur, dass das Thema bundesweit auf Interesse stoßen könnte.

kreuzer: Vom Bühnenprogramm zum Buch also … Kundt: … sozusagen. Wegen der Pandemie waren keine Veranstaltungen möglich, daher haben wir uns für ein Buch entschieden. Dann haben wir in Köln Tarkan Bagci getroffen …

kreuzer: … den Comedy-Autor. Kundt: Am Anfang wollte er nicht am Buch schreiben, sondern uns nur vermitteln. Wir unterhielten uns und wie es ist, der Funke sprang über. Ich hatte nach dem Gespräch mit Tarkan schon ein cooles Bauchgefühl und er meldete sich auch kurz darauf und sagte, dass er mitmachen möchte. Es war eine interessante, spannende Reise. Wir haben durch Corona viel geskyped, dann sitzt man in bestimmten Situationen auch mit Tränen in den Augen und guckt sich im Bildschirm gegenseitig an. Tarkan ist ein genauso emotionaler Mensch wie ich, er ist sehr ehrlich und gradlinig. Er rief mich immer wieder an, stellte Fragen, die Zusammenarbeit war super harmonisch. Ich bin extrem glücklich, dass es Tarkan war, mit dem ich das Buch geschrieben habe.

kreuzer: Inwiefern hat denn der Beruf als Tatortreiniger Ihre Perspektive, also Ihren Blick auf Leben und Tod verändert? Kundt: Zum einen habe ich die Firma ja mit meinem besten Freund gegründet. In der Finanzdienstbranche in Leipzig ist sicher viel Schön und Schein, Einstecktuch und dieses »ich bin busy«. Wenn man hinter die Fassade guckt, dann merkt man: So viel ist da nicht. Es gibt viele, die sich nach außen hin viel größer darstellen, als sie eigentlich sind. Und das ist mir bewusst geworden, weil ich die Geschichten dahinter sehe, weil ich mittlerweile in die Wohnungen gehe. Sagen wir mal, da ist ein erfolgreicher Mensch und wenn du letztendlich in der Wohnung bist und den Tatort reinigst, dann siehst du, da stapeln sich die gelben Briefe. Das Zweite ist, dass ich selbst viel bewusster lebe, dass ich viel intensiver arbeite, aber dann auch intensiv Freizeit mache, dass ich mir die Momente auch gönne für mich. Ich muss manchmal aufpassen, dass ich nicht übertreibe. Die Arbeit ist ja für mich Berufung. Ich bin heute Abend in der Distillery, da kommt dieser Rapper, PTK, und wir haben dieses Interview. Also bin ich heute erst um 23, 24 Uhr zu Hause, es ist ein langer Tag, aber das macht ja auch Spaß. Man darf dabei nicht vergessen, warum man das macht.

kreuzer: Im Buch beschreiben Sie die Tatorte sehr explizit, wie das war, wie das gerochen hat. Auf Ihrem Instagram-Kanal teilen Sie auch Bilder davon. Was ist die Motivation dahinter? Kundt: Ich teile dort maximal 20 Prozent der Dinge, die ich tagtäglich erlebe und zeige sie auch immer sehr neutral. Wir zeigen keine Suizide, das hat was mit dem Werther-Effekt (Annahme, dass Berichte über Suizide weitere Suizide auslösen, Anm. der Red.) zu tun, wo ich auch echt viel Wert drauflege. Wir werden bald selbst einen Tatortreiniger-Kurs anbieten, wo wir so was auch mitschulen wollen. Du hast in diesem Beruf eine Verantwortung, eine sehr große. Ich zeige diese Bilder im Internet, um die Leute auch mal wachzurütteln. Es kommt dieser Moment, man geht abends gestresst von der Arbeit nach Hause, ist total kaputt, genervt, will einfach nur rein, um sich was zu essen zu machen und sich auf die Couch zu hauen – und dann ist da diese Frau aus dem zweiten Stock und glotzt einen dämlich an. Jetzt steht die da und guckt, ob ich was eingekauft hab. Und man muss sich manchmal bewusst machen, dass man vielleicht ihr einziger sozialer Kontakt ist an dem Tag. Die sieht mich, und weil ich vor zwei Wochen vielleicht mal gelächelt hab, freut sie sich, mich zu sehen und da fällt mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich zum Beispiel zu ihr sage: »Mensch, ich hatte heute einen stressigen Tag, ich freue mich jetzt auf meinen Feierabend, bleiben Sie gesund, schönen Abend noch.« Das schadet uns nicht. Und nach dem Programm, wenn ich das erzähle, kommen häufig Leute zu mir und sagen: »Stimmt, man muss viel mehr aufeinander achten.« Wenn wir zum Beispiel Messie-Wohnungen haben und ein Auftrag vom Sozialamt kommt, räumen wir nie mit Containern. Die ganze Nachbarschaft guckt sonst aus dem Fenster und sagt: »Guck mal, wie es bei der aussah.« Und dann wird sie wieder mehr verurteilt. Wir räumen stattdessen mit Säcken.

kreuzer: Wie ist die Resonanz von den Leuten, die Ihnen im Netz folgen? Kundt: Das ist der Wahnsinn, wie interessiert viele sind. Es werden auch viele qualifizierte Fragen gestellt. Ich glaube das Thema Tod und die ganze Mystik darum, Krimi, True Crime, alles was mit Rechtsmedizin zu tun hat, das interessiert die Menschen einfach.

kreuzer: Sie haben bereits Suizide angesprochen. In Ihrem Buch geht es auch um Suchterkrankungen, um Gewalt gegen Frauen und Femizide, und dass es manchmal unmöglich gemacht wird, sich Hilfe zu holen. Haben Sie sich schon immer für diese Themen und bestehende Ungleichheiten interessiert oder war das etwas, das der neue Beruf mit sich gebracht hat? Kundt: Das hat der neue Beruf mit sich gebracht. Es fängt ja nicht erst bei körperlicher Gewalt an, das ist erst mal psychische Gewalt, das sind Spiele. Ich hab da mit vielen gesprochen. Es ist kurios, wie stark ein Mann auch eine Frau beeinflussen kann, das sind ja auch Narzissten. Ich habe zwei-, dreimal die Frage gestellt: Was würdest du deinem Ich von damals sagen? Und jede Frau sagt: »Ich hätte diesen Schritt schon viel eher gehen müssen. Freunde und Verwandte sind für mich da gewesen. Ich hab gedacht, ich hab keine Freunde und Verwandten mehr, weil man ja auch abgekapselt wird. Meine Familie hat mich aufgefangen.« Wenn man eine Türe schließt, dann öffnet sich eine neue? Stimmt nicht – es öffnen sich ganz viele neue Türen. Alles, was danach kommt, kann nur besser werden. Ähnlich schwierig ist die Situation für Männer. Wenn ein Mann zu Hause von seiner Frau Gewalt erfährt und seinen Arbeitskollegen erzählt: »Meine Frau schlägt mich«, dann sagen sie: »Man, bist du bescheuert? Da musst du mal auf den Tisch hauen.« Im Endeffekt wählen Männer dadurch deutlich häufiger den Suizid. Weil sie sich schämen, weil sie ihre Frau ja auch lieben. Das ist eine toxische Beziehung. Der gewalttätige Partner kommt ja hinterher auch und sagt: »Wir lieben uns doch, du bist der Einzige für mich.« Der gibt am Ende dem Opfer die Schuld. Man muss den Schritt einfach wagen. Es gibt zum Glück verschiedene Einrichtungen, an die man sich wenden kann.

kreuzer: Tatortreiniger ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Sie sind aber staatlich geprüfter Desinfektor. Lernt man da Dinge, die jetzt in der Pandemie nützlich sind? Kundt: Der Desinfektor ist für bestimmte Bereiche gedacht. Der soll eine höhere Qualifikation haben zum Beispiel für die Reinigung in Krankenhäusern oder Ähnliches, also für bestimmte Einrichtungen. Dass man sich da an bestimmte Regeln hält. Der muss auch nicht alles wissen, aber der muss wissen, was stimmt und wo man nachgucken kann. Aus meiner Idee, nebenher ein bisschen Tatortreinigung zu betreiben, ist unser Unternehmen »Desinfekt³« geworden. Ein Arbeitsbereich ist die Tatortreinigung. In der Pandemie sind das Thema Desinfektion und die Sensibilität dafür in den Fokus gerückt. Man achtet selbst mehr darauf, Hände zu desinfizieren und so.

kreuzer: Ihre Mutter ging nach der Wende nach München, während Sie in Leipzig blieben. Da waren Sie erst 14 Jahre alt. Kundt: Ich konnte es zu dem Zeitpunkt nicht verstehen und hab es meiner Mutter übel genommen. Ich hatte zehn Jahre kaum Kontakt zu ihr. Man musste ja ganz schnell auf eigenen Beinen stehen. Meine Oma war da, wir hatten ein großes Haus. Aber die Wendejahre waren trotzdem verrückt, was da passierte. Meine Oma fragte eines Tages: »Sag mal, habt ihr keine Zensuren mehr in der Schule?« Ich hab alle meine Klassenarbeiten selber unterschrieben. Vieles lief recht unkontrolliert. Und ich hab mich in dem Jahr auch wenig um die Schule gekümmert, hatte andere wichtige Dinge zu tun als 14-Jähriger. Das Moped ist da zuweilen schneller als das Lehrbuch. In dem Moment, in dem man die Mutter am meisten braucht, war sie eben nicht da. Sie hat das dann später versucht, wieder gutzumachen. Jetzt im Nachgang kann ich es verstehen, sich abzukapseln und ein eigenes Leben zu führen. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihr in die Großstadt zu gehen. Mein ganzes Leben spielte sich im Umkreis von fünf Kilometern ab. Das war meine Kindheit zwischen Wurzen und Torgau.


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