Rechte wollen heute einen Wahlkampfauftritt der SPD in Leipzig stören. Bereits am vergangenen Donnerstag gab es Proteste bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in Liebertwolkwitz. Ein Gespräch mit der aggressiven Menge schien ihm dieses Mal allerdings nicht möglich.
Einer seiner Personenschützer spricht sich noch kurz mit einem Polizisten ab, dann fährt die Kolonne von Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vom Hof der Museumsscheune in Liebertwolkwitz. An der Ausfahrt drängt eine Gruppe auf die Straße, pfeift, buht, ruft »Pfui!« und »Volksverräter!«. Ähnliche Szenen gab es zwei Wochen davor in Freiberg, wo die CDU zum Bürgerforum mit Kretschmer eingeladen hatte. Dort konnte die Polizei den Gegenprotest nicht weit genug von den Autos fernhalten. Im Gedränge geriet eine Polizistin mit dem Fuß unter einen der Dienstwagen. Zu den Protesten aufgerufen hatten die rechtsextremen »Freien Sachsen«.
Zusammen mit der »Bürgerbewegung Leipzig« haben die »Freien Sachsen« auch nach Liebertwolkwitz mobilisiert, wo die CDU Leipzig am Donnerstagabend, den 2. September einen Bürgerdialog veranstaltet – mit Michael Kretschmer und Stadträtin Jessica Heller, die bei der Bundestagswahl als Direktkandidatin für den Leipziger Süden antritt (kreuzer 09/21). Schon eine halbe Stunde bevor es losgeht, sammeln sich Protestierende entlang der Zufahrtsstraße zur Scheune und vor dem wenige Meter entfernten Rathaus. Unter den zwischenzeitlich mehr als hundert Menschen sind bekannte Neonazis wie Michael Brück oder Paul Rzehaczek, Bundesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation.
Angriff auf Journalisten
Journalistinnen und Journalisten berichten von Einschüchterungsversuchen, einer bekommt einen Schlag Richtung Oberkörper. Den Eingang zur Museumsscheune schirmt eine Polizeikette ab. Rein gelassen wird nur, wer eine Anmeldung vorzeigen kann. Was vor dem Veranstaltungsraum passiert, ist auch drinnen Thema. »Normalerweise würde ich aussteigen, würde ich hingehen, reden«, sagt Kretschmer. Doch: »Leider ist mit diesen Menschen kein Gespräch möglich«.
Auch einige Gäste wollten die aggressive Menge offenbar meiden. Von den 60 Sitzplätzen bleibt ein Drittel leer, obwohl es für jeden Platz eine Anmeldung gegeben habe, sagt Leipziger Direktkandidatin Heller. Schon im Voraus hätten manche wegen der angekündigten Proteste abgesagt. Andere zeigen sich besorgt, weil sie draußen Bekannte gesehen hätten. »Da stehen jetzt nicht nur Rechtsradikale, da standen Nachbarn von mir«, stellt Stephan Ring fest, CDU-Ortschaftsrat aus dem benachbarten Wachau.
Wir sind mehr
Viele Menschen seien keine Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker oder Demokratiegegner, ist sich Ministerpräsident Kretschmer sicher. Wer die Grenzen des demokratischen Diskurses überschreite, disqualifiziere sich aber selbst, sagt Kretschmer und zitiert den ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU). Der hatte 2018 mit Blick auf die rechten Ausschreitungen in Chemnitz gesagt, dass, wenn die Mehrheit schweige, radikale Minderheiten immer lauter würden. »Und wenn das mehr werden, müssen wir uns alle darum kümmern, dass wir noch mehr werden«, ergänzt Kretschmer. In Chemnitz kümmerte sich damals die Band Kraftklub und organisierte ein Konzert, das genau das zeigen sollte: Wir sind mehr. Es kamen 65.000 Menschen. Der sächsische Verfassungsschutz führte das Konzert in einem Vorabbericht im Kapitel »Linksextremismus« auf, unter anderem weil »Fahnen der antifaschistischen Aktion« gezeigt wurden. Mit dem Antifa-Logo hat auch Jessica Heller ihre Schwierigkeiten – zumindest im Stadtrat. Dort forderte sie im März einen Ordnungsruf für Linken-Stadtrat Michael Neuhaus, der ein entsprechend bedrucktes T-Shirt anhatte.
Kernthema Gesundheitspolitik
Heller selbst hat sich als Krankenpflegerin auf der Intensivstation vor allem die Gesundheitspolitik auf die Fahne geschrieben, um die es in der Fragerunde in Liebertwolkwitz immer wieder geht. Aus dem Publikum kommt zum Beispiel Kritik an der Aufteilung in private und gesetzliche Krankenkassen und an der Gewinnorientierung des Gesundheitswesens. Darin sieht auch Heller ein Problem, denn das Geld werde »mit der Medizin« verdient, während die Pflege vor allem Kostenfaktor sei. Gesundheitsminister Jens Spahn habe versucht, diesen Zustand mit dem Pflegebudget aufzubrechen, aber »das ist nicht perfekt, keine Frage«. Hellers favorisierte Lösung sei, den Krankenhauskonzernen vorzuschreiben, wie viel sie von ihren Gewinnen wieder in die Pflege oder andere Bereiche stecken müssen.
Insgesamt seien die Versäumnisse im deutschen Gesundheitssystem Jahrzehnte alt, aber »in der Politik ist viel Verständnis jetzt nach Corona da, dass sich was tun muss«. Auf Verständnis hoffen auch zwei Frauen, die von Ängsten und Unsicherheiten bezüglich der Corona-Maßnahmen berichten. Das ist mal vage und diffus, mal konkret. Eine der beiden erzählt, dass seit März 2020 weder sie als Schauspielerin noch ihr Mann als Musiker arbeiten könnten. Sie nennt es »Berufsverbot«, sagt, dass sie sich ausgegrenzt fühle und in ihrer Freiheit beschnitten.
Wieder rechte Proteste angekündigt
Kretschmer hält energisch dagegen, wird laut: »Es sind zehntausend Menschen gestorben« und »wir hatten eine komplette Überlastung des Gesundheitssystems«. Es gehe jetzt darum, diesen Punkt nicht wieder zu erreichen. Mittlerweile seien nur noch der Mund-Nasen-Schutz und Abstand vorgeschrieben. »Das muss doch wohl möglich sein, wenn wir so eine Katastrophe hatten!«, sagt Kretschmer. Heller fügt ihre Sicht als Krankenpflegerin an. Sie habe Angst davor, eine Welle zu bekommen, »wo die Leute mir auf dem Gang unter den Händen wegsterben«.
Nach der Fragerunde diskutiert sie noch mit Einzelnen über die Fehlerquote von PCR-Tests und erklärt, wie die Impfung funktioniert. Kretschmer ist da schon weg. Er muss am nächsten Morgen die Trauerrede für den ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf halten. Mit Kretschmer ist schnell auch die grölende Menge verschwunden. Am 5. September wird sie wohl wieder auftauchen, wenn Olaf Scholz in Leipzig auftritt. In ihrer Telegram-Gruppe hat die »Bürgerbewegung Leipzig« bereits angekündigt, den SPD-Kanzlerkandidaten »gebührend zu begrüßen«.